Montag, 23. Juni 2025

De Winter, Leon: Stadt der Hunde

 

Der renommierte niederländische Gehirnchirurg Jaap Hollander ist im Ruhestand, aber Ruhe findet er nicht. Seit seine Tochter zehn Jahre zuvor in Israel verschwunden ist, kehrt er jedes Jahr nach Tel Aviv und in die Wüste Negev zurück. Diesmal wird er dort unversehens gebeten, eine äußerst riskante Gehirnoperation durchzuführen. Er sagt zu, obwohl die Erfolgsaussichten verschwindend gering sind. Nicht nur das Leben seiner mächtigen Patientin hängt von der Operation ab, vielleicht eröffnet sie ihm sogar eine neue Spur zu seiner Tochter. (Verlagsbeschreibung)

DNB / Diogenes / 2025 / ISBN: 978-3-257-07281-5  / 272 Seiten
 

Kurzmeinung: Ein unsympathischer Neurochirurg entwickelt sich noch auf seine alten Tage - viele Themen werden hier gekonnt verquickt, ein Lesevergnügen!

 

 

 







AUF SPURENSUCHE IN ISRAEL...



Nicht nur in den Niederlanden sondern weltweit gilt Jaap Hollander als Koryphäe auf dem Gebiet der Neurochirurgie. So versiert und anerkannt er beruflich jedoch ist, so wenig ausgeprägt sind seine menschlichen Eigenschaften. Klischeemäßig zieht er jede Krankenschwester der Klinik in eine dunkle Nische und heiratet nur, weil eine von ihnen dadurch unerwartet schwanger wird. Die Gefühle der Ehefrau gegenüber sind von Ärger und Verachtung geprägt, und der Tochter attestiert er, dass sie womöglich der Mutter ähnlicher ist als Jaap es gerne hätte.

Zehn Jahre ist es nun her, dass Jaaps Tochter in Israels Wüste Negev verschwunden ist, und seither begibt sich der Gehirnchirurg in jedem Jahr für einige Wochen dorthin, um nach möglichen bisher übersehenen Spuren der Vermissten zu suchen. Seit seiner Scheidung unternimmt er diese Reisen alleine, während sich die Kindsmutter mit dem Verschwinden der Tochter abgefunden zu haben scheint. Mittlerweile befindet sich Jaap im Ruhestand, hat in den Niederlanden mit eigenen Händen bereits sein halbes Haus renoviert und begibt sich nun erneut nach Israel.

Doch dort läuft plötzlich alles nicht mehr in den gewohnten und geplanten Bahnen. Jaap erreicht die dringende Bitte, eine hochriskante Gehirnoperation durchzuführen, die im Grunde keine Erfolgsaussichten hat. Dazu herrscht dabei die höchste Geheimhaltungsstufe, denn die Patientin ist die Tochter des politischen Führers eines arabischen Staates - sollte die Operation gelingen, würde Jaap finanziell und Israel politisch sehr davon profitieren. Im Falle eines Scheiterns droht allen Beteiligten Schlimmes, nicht nur der Patientin. Trotz des hohen Risikos willigt Jaap jedoch ein, denn mit dem Geld für die Operation könnte er die Suche nach seiner Tochter noch einmal intensivieren...

Leon de Winter erzählt eine Geschichte voller unerwarteter Wendungen, und er befasst sich dabei mit etlichen verschiedenen Themen, die er nüchtern und verständlich kurz skizziert darlegt und dabei die Faszination an dem Wissen durchblitzen lässt. Gehirnchirurgie und medizinische Details, die politische Nahost-Situation, Glaubensfragen, Rationalismus vs. magischem Denken, philosophische Gedankengänge zum Sinn des Lebens, Nahtoderfahrungen u.a.m seien hier beispielhaft genannt. Trotz der Themenvielfalt wirkte der Roman für mich erfreulicherweise an keiner Stelle überfrachtet.

Jaap wirkt auch im Verlauf nie wirklich sympathisch, jedoch verändert er sich allmählich weg vom vernunftgesteuerten, um sich selbst kreisenden Egozentriker hin zum unvollkommenen, nachdenklichen Menschen, der andere an sich heran und in sein Leben lässt. Dem Autor gelingt es, trotz anfänglicher Unnahbarkeit des Charakters zunehmend so etwas wie Nähe zu Jaap zu vermitteln und sein Leben, Hadern und Leiden spürbar werden zu lassen, aber ebenso seine Entdeckung der kleinen Freuden.

Die titelgebenden Hunde spielen in dem Roman ebenfalls eine Rolle. Im Hotel nahe der Wüste Negev wird Jaap immer wieder von einem wild lebenden Hund aufgesucht, Tel Aviv wimmelt vor Hunden, ihren Hinterlassenschaften und ihren Besitzer:innen, und schließlich begegnet Jaap auch noch einem sprechenden Hund. Dieser doch recht surreal anmutende Teil der Erzählung verwirrte mich zunächst, doch wird der Aspekt letztlich zufriedenstellend aufgelöst.

Ein klug konzipierter Roman, der (auch) die Frage aufwirft, was am Ende zählt. Auf Spurensuche in Israel, die spannend und in unerwarteten Wendungen erfolgt. Für mich ein Lesevergnügen!


© Parden




Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ›Welt‹-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für ›Das Recht auf Rückkehr‹ ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschien bei Diogenes ›Stadt der Hunde‹ (2025). (Quelle: Diogenes)


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