Dienstag, 28. Mai 2019

Westover, Tara: Befreit (Educated)

Bereits vor einiger Zeit, ehrlich gesagt, im September des letzten Jahres erreichte mich ein Buch aus dem Verlag Kiepenheuer & Witsch. Ich nehme an, die E-Mail hat inzwischen das Zeitliche gesegnet, dass ich das Buch „anforderte“, aber der Brief, der mir aus dem Lektorat vom Verlag zugesendet wurde , kann auch bedeuten, dass ich das Buch zugeschickt bekam.



In diesem Brief erläutert der Mitarbeiter des Lektorats neben einer kurzen Inhaltsangabe, dass Amerikas „berühmtester Buchblogger“, Ex-Präsident Barack Obama, ganz begeistert war. Nun, ich denke, der wird nicht nur vom Buch begeistert gewesen sein, sondern von den „unbegrenzten Möglichkeiten“ im Land derselben.



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Tara Westover erzählt ihre Geschichte und die hat es in sich. Geboren wird sie im Jahr 1986 in Idaho in einer „survivalist family“ (Obama). Mit vier älteren Brüdern und einer Schwester wird sie als Mormonin erzogen. Das Mormonentum ist besonders in den USA weit verbreitet, es entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und selbst in Dresden gab es die erste Gemeinde bereits im Jahr 1855. Aber auch wenn gelegentlich von den Mormonen als Sekte gesprochen wird, der Glauben ist nicht unmittelbar die Ursache für das, was Tara Westover und ihren Geschwistern als „Erziehung“ widerfährt. Die Ursache ist die fundamentalistische Ausübung des Glaubens vor allem durch den Vater. 

Mit siebzehn Jahren steht sie das erste Mal in einem Klassenzimmer. Es wird ihr gelingen, innerhalb der nächsten zehn Jahre eine Universitätskarriere hinzulegen, dies sie über das College und die Brigham Young University in Idaho nach Cambridge und Harvard führt.

Buck Peak - Idaho - Bildadresse
Die Zustände in der Familie sind kaum zu glauben. Die Mutter arbeitet als illegale Hebamme, in diesem Bundesstaat darf wohl Geburtshilfe nur durch Ärzte erfolgen. Außerdem braut sie aus allerlei Kräutern „Medizin“. Das ist die einzige „medizinische“ Hilfe, die ihre Kinder oder der Vater erhalten, wenn sie teilweise mit schwersten Verletzungen von der Arbeit auf Vaters Schrottplatz und anderen Baustellen wiederkommen. Tara, die manchmal schwer von einem Bruder gequält wird, was die Eltern weder sehen wollen, geschweige denn verhindern. Der Bruder und später der Vater selbst erhalten schwere bis schwerste Verbrennungen beim Schweißen noch nicht ganz leerer Benzintanks, die sie von Autos entfernen bevor diese in eine mobile Schrottpresse kommen. Arbeitsschutz beschränkt sich auf Schuhe mit Stahlkappen. Dass die Mutter den Vater wieder auf die Beine bringt hat zur Folge, dass aus der Kräuterbrauerei ein gewinnbringendes Geschäft wird.

Quelle: Wikipedia
Der Vater sieht sich vom Staat verfolgt und misstraut allen staatlichen Stellen. Daher gehen die Kinder auch nicht zur Schule und haben teilweise keine Geburtsurkunden. Ellenlange Monologe hält der Vater beim Essen vor der Familie, er gilt innerhalb der Verwandtschaft und der umliegenden Bevölkerung am Buck Peak, genannt Indianerprinzessin, in den Buck Mountains, als Sonderling und als etwas verrückt. Einziges Buch in seinem Besitz: Das Buch Mormon.
(Tara wird später erklären, dass er eine bipolare Störung aufweist, begründet dies allerdings nicht weiter.)

Bildung jedenfalls ist keine Option in dieser Familie, obwohl sowohl Vater als auch Mutter über entsprechende schulische Grundkenntnisse verfügen, die Kinder werden zu Hause unterrichtet. Drei Brüder besuchen trotzdem die Schule und Tara bereitet sich auf das College vor und versucht sogar höhere Algebra zu verstehen. Sie wird die Aufnahmeprüfung schaffen und dann studieren.

Dies fällt ihr schwer. Sie kommt mit einer Welt und Menschen in Berührung, die sie so nie wahrgenommen hat, ist es bei ihr zu Hause auch bei den Großeltern letztlich streng religiös zugegangen. Dies betrifft Verhalten und Kleidung von Mitstudentinnen einerseits wie Themen, Stoffe und Begriffe andererseits. Bezeichend ist die Episode, in der sie den Professor fragt, was das eigentlich sei:  Der „Holocaust“. Dieser antwortet pikiert mit „Na vielen Dank dafür“. Noch nie hatte sie davon gehört. Aber es gibt Menschen die sie unterstützen und so geht sie ihren Weg...

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Das Buch macht sprachlos. Es macht wütend. Die geschilderten traurigen Zustände sind nicht fassbar. Vielleicht stimmt das mit der bipolaren Störung des Vaters, der seine Tochter ja ziehen lässt, die ihre Eltern trotz dieser Umstände liebt nachdem sie im Studium weit fortgeschritten ist. 
Etwas unverständlich erscheinen uns die Bedingungen für die Aufnahmeprüfung und die Art, wie Studieninhalte ausgewählt werden. Interessant fand ich, dass Professoren bestimmte erfolgversprechende Studierende direkt und sogar umfassend finanziell fördern lassen können.
Es ist eine gewaltige Leistung, die die junge Frau hier vollbringt, sie büßt dadurch aber auch einen Teil der engeren Familie ein, Eltern und die Schwester werden sie sinngemäß verstoßen. Zu drei älteren Brüdern und deren Familien und zu anderen Verwandten pflegt sie allerdings später wieder Beziehungen.

Der fortwährend andauernde Spannungsbogen ergibt sich aus der chronologisch erzählten Autobiografie selbst, denn die ständigen Wechsel zwischen Familie und Studium, Unterstützung und Ablehnung, Quälerei bis zu Todesängsten und Erfolgen beim Lernen wirken so, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte. Gelegentlich wollte ich aber auch in die Ecke feuern.

Als Tara an das Trinity College in Cambridge aufbricht flüstert ihr der Vater zu: „Wenn du in den Staaten bist,... können wir dich holen. Egal wo du bist. Ich habe viertausend Liter Benzin im Feld vergraben. Wenn das Ende da ist, kann ich dich holen, dich nach Hause bringen, wo du sicher bist. Aber wenn du über den Ozean gehst...“ (Seite 344)

Diese Dualität von Liebe und Ablehnung kennzeichnet die Geschichte einer bewundernswerten Frau, die für die Namen so mancher Personen, einschließlich die ihrer Geschwister Pseudonyme verwendet, wie sie ebenfalls in den Vorbemerkungen erklärt. Das zeigt rückblickend nach der Lektüre, dass trotz aller Aufarbeitung sicher schlimme seelische Wunden übrig geblieben sind. Von den Eltern verlassen, standen der Autorin ihre Brüder Tyler und Richard zur Seite bei der Arbeit an diesem, ihrer aller Buch.

Tara Westover hat es unter diesen Umständen nicht nur zu einem Bachelor of Arts und zu einem Abschluss als Master of Philosophy gebracht, letztlich promoviert sie 2014 im Fach Geschichte. Ihre Dissertation beschäftigt sich dann auch mit dem Mormonentum und seiner Wirkung in der Geschichte und der Gesellschaft in den USA. Das Buch selbst, so schreibt sie als Vorbemerkung, „handelt nicht vom Mormonentum, auch nicht von einer anderen Form religiösen Glaubens“. 

Das Buch aber handelt von einer „Befreiung“. Befreiung vom Ungebildetsein. Der Originaltitel lautet „Educated“ – „gebildet“. Mit diesem „Schulweg“ ist sie das in einem besonderen Maße unbedingt.

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Oben erwähnte ich Obama, dem das Buch wohl sehr gefallen hat. Gleichwohl sind es die USA, in denen die Schere zwischen arm und Reich zu Verwerfungen führt, denen die Regierung nicht Herr wird beziehungsweise eh nur Lippenbekenntnisse dazu abgibt.

Zu Tara Westovers autobiografischem Buch hat sich J.D. Vance geäußert:
„ Befreit wirft ein Licht auf einen Teil unseres Landes, den wir zu oft übersehen. Tara Westovers eindringliche Erzählung — davon, einen Platz für sich selbst in der Welt zu finden, ohne die Verbindung zu ihrer Familie und ihrer geliebten Heimat zu verlieren — verdient es, weithin gelesen zu werden.«  Vance stammt selber aus einfachsten Verhältnissen und diese in seiner Hillbilly – Elegie beschrieben. So kommt man von einem auf das nächste Buch...

Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch für dieses Exemplar. Manchmal will „gut Ding auch Weile haben.“


© Bücherjunge (31.01.2022)

1 Kommentar:

  1. Eine eindrückliche Rezension... Mich reizt das Buch zwar nicht, aber man merkt, wie sehr es dich beschäftigt hat!

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