Samstag, 20. September 2025

Mohr, Francis: Gnadentod - Bedenke das Ende

 „Die Zeit rennt. Denn schon wieder ist ein Mensch gestorben. Die Angst geht um am Rande der Stadt. Eine mysteriöse Todesserie erschüttert die Sonnen-Klinik. Wann erwischt es den nächsten Patienten? Kommissar Kafka ermittelt – und zweifelt bald schon an seinem Verstand. Da gibt es ein neues Opfer." (Buchrücken) ...“

Das ist Stoff für einen vermutlich schon x-mal geschriebenen Roman und diverse TV-Krimis. Entweder Rache als Motiv oder assistierter Freitod oder eben Gnadentod...

Doch dieser Kommissar mit dem bezeichnenden Namen Kafka, den er aus begreiflichen Gründen auch mal verleugnet, muss weit über seinen Ermittlungsansatz hinaus.

Eines Abends auf dunkler Straße hat er eine Autopanne. Es begegnen ihm mehrere Busse. Auf der Suche nach Hilfe soll er sich ausweisen. 

„Polizeidienstausweis Freistaat Sachsen. Kriminalhauptkommissar Josef Kafka... Noch nie gesehen. Das Foto von Ihnen ist sogar in Farbe. Sind das neue Papiere?... Unsere Polizei hat lediglich Metallmarken.“ 

Kafka hält die Kolonne für eine Oldtimerparade.

„Das ist eigenartig. Dem Papier fehlt das Hakenkreuz. Das Deutsche Reich ist doch nach Gauen eingeteilt, oder?“ (Seite 15)

Da rennt Johann aus den Bussen in den Wald, die Betreuer oder Bewacher hinterher, was sind das für Leute? 

Von Sachsen führt der Weg ins Sudetenland, nach Berlin, die plötzlich Reichshauptstadt heißt und auf den Pirnaer Sonnenstein...

* * *

Irgendwann ist er wieder im Hier und Jetzt. Die Ermittlungen in der Sonnenklinik nehmen ihren Lauf. Die neue Kollegin ist eine große Hilfe. Dann muss Kafka auf Dienstreise. Nach Ostrava. Er landet in Troppau, das eigentlich Otava heißt. Sudetenland. In dieser Stadt befindet sich eine „Irrenanstalt“. Aus dieser wurde Johann abtransportiert. Zum Sonnenstein?


Schon die Oldtimer-Busse schufen im Kopf des Lesers Bilder. Diese Beschreibung tut dies auch. Sie erinnert mich an die Landesirrenanstalt am Domjüchsee bei Fürstensee-Neustrelitz, kurz Domjüch genannt. Eine idyllische und hochmoderne Anstalt aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Auch aus dieser wurden Patienten aus Neustrelitz zum Beispiel nach Bernburg transportiert.

Damals gab es in den medizinischen Fakultäten einen Wissenschaftszweig namens Eugenik (Erbgesundheitslehre) und eigentlich sollte es den meisten Leserinnen und Lesern nun auffallen: hat das was mit Euthanasie zu tun?

1870 bereits sah es ein Schriftsteller namens Samuel D. Williams jr. als ärztliche Plicht an, unheilbar an schmerzhaften Krankheiten leidenden Patienten AUF DEREN WUNSCH Narkosemittel für einen „schnellen und schmerzlosen Tod“ zu verabreichen. GNADENTOD? euthanatos = schöner Tod. Euthanasie = Todeslinderung (1902) (Wikipedia)

In der Tiergartenstraße 4 in Berlin wurde die Aktion T4 ersonnen und in den Jahren 1940 bis 41 mehr als 70.000 Menschen ermordet, bis 1945 über 200.000.

Eine Stelle davon war der Pirnaer Sonnenstein. Hier endet dann auch Francis Mohrs Roman. 


Das Buch:   Geht so etwas? Kann man auf diese Art und Weise (grausame) Geschichte erzählen? Durch Zeitreisen oder ähnliche seltsamen Ideen? 

Francis Mohr lässt offen, warum Kafka mit der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten konfrontiert wird. Sein Ansinnen ist es wohl darzustellen, dass die Vorstellung von „unwertem Leben“ mit dem Dritten Reich nicht untergegangen ist. Während die Todesfälle in der Jetztzeit verschiedene Fälle sind, oder „Gründe“ aufweisen, sprechen Kafka und Pfarrer Heilmann auch von Vorstellungen, die aktuell Bedeutung erlangen könnten, wenn Algorithmen über Behandlungsmethoden entscheiden, berechnen, welche Lebenserwartung noch besteht und so „unnötige“ Behandlungen den Patienten erspart bleiben könnten.

Am Ende stellt sich noch die Frage, inwieweit unsere „Vorfahren“ in die NS-Verbrechen verwickelt gewesen sein könnten.

Ja man kann, denke ich. Zumal Geschichte heute in unterschiedlichen Medien erzählt wird, man denke da nur an graphic novels oder wie bei Sophie Scholl in Instagram-Accounts


Josef Kafka:  Wer ist das, dieser Josef Kafka? Kenner der Prosa des Prager Schriftstellers Franz Kafka erinnern sich an dessen vielschichtige und komplexe Figur Josef K., rational, an Recht und Ordnung glaubend, gelegentlich ohnmächtig gegenüber Machtstrukturen.

An dieser Gestalt hat Mohr seinen modernen Kafka etwas angelehnt, könnte man sagen.

Eine nachdenkliche und moralisch sensible Figur, die sich eigener Grenzen bewusst ist, zweifelnd und reflektiert. Dabei wirkt er durchaus zäh und entschlossen. Eine moralische Instanz, aber keine den Leser belehrende, in einer Welt, in der Gut und Böse zunehmend verschwimmen. Verantwortung, Zivilcourage und Empathie zeichnen ihn aus. 

Francis Mohr hat mit Joseph Kafka eine vielschichtige, tiefgründige Ermittlerfigur geschaffen, die sich nicht nur mit Verbrechen, sondern ebenso mit den ethischen Abgründen der Gesellschaft auseinandersetzt. Seine Reisen in die NS-Zeit machen ihn zu einem Mahner gegen das Vergessen – und zu einem Symbol für moralisches Handeln in schwierigen Zeiten.

Fazit:  Ich hatte, in Kenntnis anderer Erzählungen und den Mohrschen Josef Kafka bisher eher ignorierend, ein solch eindringliches Buch nicht erwartet. Der Beruf des Psychotherapeuten spielt vermutlich keine unwesentliche Rolle bei der Stoffauswahl. Das Thema hätte ins Uferlose fortgeführt werden können, in eine Diskussion zu aktiver Sterbehilfe beispielsweise, jedoch hat Francis Mohr hier in der Reduzierung auf die Themen Krankenhausmord und NS-Verbrechen besonders Letzteres herausgestrichen, den Bezug zur Jetztzeit trotzdem deutlich dargestellt. 



Aus den Wikipediaartikeln zu Pirna-Sonnenstein* und 
Tropas / Otava - Der Bus erinnerte an die Transporte


PS*: Der Gedenkstein auf dem linken Bild kommt im Buch während einer Szene vor, denn plötzlich endet für KHK Kafka und Pfarrer Heilmann der bekannte Weg zu Gedenkstätte. Sind sie wieder in einer anderen Zeit? Der Bus erinnerte an die Schreckenstransporte. Hier auf dem Blog erinnert auch Nebel im August an diese Zeit.

* * *

Ganz klare Leseempfehlung. 

„Quisquillosos Avis, prudentes aguas te réspice fíneme.“ 

Was auch immer tu tust, tue es klug und bedenke das Ende“. 

Das Böse ist notwendigerweise an die Freiheit gebunden, ohne die Wahl, 

das Gute oder das Böse zu wählen, gibt es keine Freiheit. (S. 216)


Ich schaue mir den Josef K. des Franz Kafka demnächst doch näher an; den von Francis Mohr aber ebenso. Und Francis Mohr danke ich für die Zusendung seines Buches und die schönen Begegnungen wie letztens bei Dresden (er)lesen.



PS* : Der obige Textauszug erinnerte mich sehr stark an die die Anstalt in der Nähe von Neustrelitz am idyllischen Domjüchsee. Über diese schrieb ich bereits einmal hier.


Die Mecklenburg-Strelitz´sche Landesirrenanstalt Domjüch *

  • DNB / Paperento / Chemnitz 2025 / ISBN: 978-3-947409-71-6 / 365 Seite
Franzis Mohr auf Litterae-Artesque:
© Bücherjunge


1 Kommentar:

  1. „Wer ihn noch nicht kennt, lernt im letzten Kapitel den Herrn Kommissar Kafka und diverse Leute kennen, die immer Knödel heißen. Kafka – Prag – Knödel? Eher weniger. Über Kafka und Knödel findet man noch mehr unter dem Label ZWIEBOOK bei salomo publishers. Ob Kafka mit dem ehemaligen Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei grillt und plaudert, einen Kongress besucht oder Schuhe kauft, die Figur gefällt mir sehr. Man muss sich etwas ran tasten. Es ist ja auch nicht so, dass die Geschichten schwer verdaulich sind wie die von dem Kafka aus Prag.“

    Ach, hab gerade mal nachgesehen. Das stammt aus der Buchbesprechung von „Hotel A_toria“ aus dem Jahr 2019. - Der Bücherjunge

    AntwortenLöschen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.