Ein Junge, ungefähr fünfzehn Jahre, sitzt im Haus seiner Eltern und erklärt diesen, dass er gehen muss. Es läutet an der Tür. Vor dem Hause stehen Krankenpfleger und nehmen den Jungen mit zu einem Krankenauto. Er schaut zurück, die Eltern stehen entsetzt und stumm und blicken ihm nach.
Der Junge ist der Sohn eines SS-Obergruppenführers und unheilbar krank. Der Vater hat den Arzt des Jungen getötet, denn der wollte den Reichsgesetzen "Geltung verleihen" und den Vater anzeigen. Der Junge findet später ein Buch, in dem seine Krankheitssymptome beschrieben sind. Erzogen im nationalsozialistischen Geist und als überzeugter Angehöriger der HJ hält er sich nun für "unwert" und beschließt, dem durch die Selbstanzeige Rechnung zu tragen.
Dies sind Szenen aus der Fernsehserie THE MAN IN THE HIGH CASTLE, die unter Amzon zu finden ist, frei nach dem Buch DAS ORAKEL VOM BERGE des amerikanischen Sience Fiction Autoren Philip K. Dick.
Diese Szene fiel mir ein, als ich den Artikel Sargau ist Irsee in der Wochenzeitung DER FREITAG las.
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Keine Alternativwelt, sondern bittere Realität, basierend auf einer wahren Geschichte, ist der Film NEBEL IM AUGUST. (wiki) Aufmerksam wurde ich auf diesen Film durch einen Artikel heute in der Wochenzeitung DER FREITAG. Kai Wessels Film erzählt erstmals vom "Euthanasie"-Programm im Nationalsozialismus. Es ist die Geschichte eines dreizehnjährigen Jungen.
Das Bild im Artikel zeigt einen Krankensaal mit Kindern. Ein Bild wie es viele in der Welt gab und gibt. Die Einrichtung stammt aus früheren Jahrzehnten, erkennbar wohl auch an der Kleidung der auf dem Bett sitzenden Krankenschwester. Es ist die katholische Schwester Sophia (Fritzi Haberland). Auf der anderen Seite des Bettes sitzt Dr. Walter Veithausen, (Sebastian Koch) der dem kleinen Jungen gerade ein Jojo schenkt. Er wird wenig später eine Weisung an eine andere Krankenschwester geben.
Der Freitag, Nr 10. 09. März 2917 |
Die Szene könnte sich genauso abgespielt haben in der "Heil- und Pflegeanstalt" Kaufbeuren - Irsee. In der wurde Ernst Lossa nämlich ermordet. Ernst Lossa ist der Junge auf dem Cover des Buches. Er hat wirklich gelebt und seine Geschichte hat Robert Doemes im gleichnamigen Buch erzählt, der Film beruht auf diesem Jugendbuch.
Ernsts Vater gehört zu den Jenischen, den Fahrenden. Er hat also keinen festen Wohnsitz. Der Junge kommt mit seinen Schwestern in ein Kinderheim und später selber nach Sargau (Filmort) - also nach Kaufbeuren - Irrsee. Er gilt als schwererziehbar.
In Sargau regiert Dr. Veithausen (orig. Dr. Faltlhauser). Eines Tages erhält er den Befehl, "lebensunwerte" Bewohner der Heil- und Pflegeanstalt nicht mehr an eine von mehreren Tötungsanstalten der T4 - Aktion zu schicken, sondern dies gleich in der Anstalt zu erledigen. Dazu stellt er die Kinderkrankenschwester Edith (orig. Pauline Kneissler) ein. Barbiturate in Himbeersaft ist das "kinderfreundliche" Rezept des Todesengels, sie würden dann das Gift nicht mehr so oft ausspucken. Die katholische Schwester Sophia versucht bei ihrem Bischof zu protestieren, der aber lässt sie an diesem Platz als Beistand für die Opfer des Verbrechens, das sich nicht verhindern lässt. Sophie versucht einige der Morde zu verhindern und versteckt gemeinsam mit Ernst, der ebenfalls versteht was da passiert, ein kleines Mädchen. Sophia kommt bei einem Bombenangriff um. Ernst klagt bei der Beerdigung den Anstaltsleiter an, ein Mörder zu sein. So kommt der gesunde Junge auf die Todesliste...
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wikipedia *** |
Ernst Lossa ist keine fiktive Figur, die Akte Lossa zog Michael von Cranach, der später Leiter des Bezirkskrankenhause Kaufbeuren, aus den Beständen im Anstaltskeller. (Seltsam, dass die die ganze Zeit dort lagerten). Der Arzt wurde für seine Verdienste um Aufklärung der Euthanasie-Verbrechen ausgezeichnet.
Manches, was sich in dieser "Heil- und Pflegeanstalt" abspielte, wird im Film erzählt. Im Rahmen der T4 - Aktion (benannt nach dem Sitz des Amtes in der Tiergartenstraße 4 in Berlin) erfand Veithausen / Faltlhauser eine Suppe ohne Nährstoffe (Entzugskost). Durch vollständiges Auskochen von Gemüse wurde das erreicht. Die damit "versorgten" Patienten verhungerten förmlich beim Essen.
Im Film selber wird zwar die Verabreichung des Himbeersaftes gezeigt, wie Ernst die Todesspritze erhält aber nicht. Tatsächliche Grausamkeiten werden dem Zuschauer nicht vorgeführt. Im Gegenteil, der Anstaltsleiter kommt einem gar nicht unbedingt wie der fanatische Nazi vor. Um so stärker die Szenen, in denen der Füllfederhalter Namen auf Listen ausstreicht. Mit was für einem Menschen wir es zu tun haben, zeigt dann vor allem die Szene, in der Veithausen die "Suppe" in einer Besprechung zur T4-Aktion den Teilnehmern verabreicht und ihnen beim Essen erklärt, dass sie gerade eben "nichts essen".
Die im genannten Artikel angeführte Kritik, wonach der Junge als Held und die Schwester Sophia "zu positiv" dargestellt wurden wären, ist meines Erachtens nicht haltbar. Auch nicht der Gedanke, dass "das Verbrechen der "Euthanasie" offensichtlich noch monströser [wird], wenn es einen nichtbehinderten Charakter trifft." Dies sei "vielleicht der Preis, den man zahlen muss, damit der film die nichtbetroffenen Zuschauer erreicht." Ich finde, dass genau diese nicht zutrifft. Der Mord an Ernst Lossa zeigt eher, dass der überzeugte Nationalsozialist Veithausen / Faltlhauser "neben" der Ideologie auch vor einem weiteren Mord nicht zurückschreckt, da der Junge ja nicht schweigt und die "Arbeit" in Gefahr gerät. Und sei es nur der "geordneten Abläufe" wegen.
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Im Jahr 1954 wird der Psychiater Faltlhauser durch den bayerischen Justizminister begnadigt - nach drei Jahren Haft. Und auch obwohl das Töten in der Anstalt noch Monate nach der Kapitulation weiter ging. Pauline Kneissler, das Vorbild für die Edith im Film, wird nach Verbüßung von einem Viertel der Strafe freigelassen und arbeitete weiter als Kinderkrankenschwester. Ihr Name wurde erst durch das Buch über Ernst Lossa wieder bekannt.
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Bild Mitte siehe wikipedia ** |
Dieser Post gilt dem Film Nebel im August, doch steht das Jugendbuch gleichberechtigt neben Hanas Koffer und ist ein Zeugnis gegen das Vergessen.
© Bücherjunge
* Die Zitate sind dem abgebildeten Artikel entnommen.
Rebecca Maskos in DER FREITAG / Nr 10 / 09.03.2017 / Seite 18,
** Angela Huster: Irsee, Euthanasie-Denkmal im sog. Euthanasie-Friedhof in Kloster-Nähe / gemeinfrei / File:Irsee
Euthanasie-Friedhof (2).JPG Erstellt: 20. Mai 2012
*** Archiv BKH Kaufbeuren - Krankenakte von Ernst Lossa / CC BY 3.0 / File:Ernst Lossa, Foto aus der
Krankenakte.jpg / Erstellt: 4. September 2011
Grausam. Immer wieder.
AntwortenLöschenImmer wieder tauchen Geschichten auf, die uns fassungslos machen.Welch eine Anmaßung sich als Richter aufzustellen, über Leben zu entscheiden.
AntwortenLöschenTraurig und typisch für die Nachkriegszeit in der BRD, die schnelle Begnadigung der Täter,die ihren Beruf mit diesem Hintergrund weiterhin ausübten.
Regina
Es darf nie aufhören, über diese Ereignisse zu schreiben.