Okay, dann stimmts. Die Reise führt den Polen Stani, den Galizier Igor und den Deutschen Hannes von Leipzig über Dresden nach Opole und nach Lwiw.
Also, der Hannes pendelt in den achtziger Jahren zwischen Leipzig, da ist er geboren, und Dresden hin und her. Mitte der Neunziger agiert er mit den beiden anderen von Opole aus. Stani „arbeitet“ mehr in Polen, kommt aber mit Igor auch mal bis nach Lwiw. Das ist Igors Heimatstadt und dessen Eltern leben dort. Igor war mal in Deutschland, als Soldat der Roten Armee und spezifische Erlebnisse als solcher, werden Einfluss auf das Ende der Roadfiction haben. An den Anführungszeichen sieht man, dass die „Arbeit“, nun sagen wir mal, zwar gegenständlich aber weniger ehrlich ist. Kurz gesagt, der Hannes nimmt Leuten in Deutschland die Westautos weg, in Opole werden sie umgefriemelt und Igor fährt die Kisten dann in die Ukraine. Mehr muss man zum Modus Operandi nicht erwähnen, nur dass sich das Mitleid bezüglich der ehemaligen Besitzer ob deren Verhalten und Benehmen in Grenzen hält. Kurz, die haben das verdient. [2]
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Opole * |
(Wenn ich so weiter schreibe, dann habe ich irgendwann das ganze Buch erzählt.)
Der Stani hat einen Onkel Pavel, der in einem klösterlichen Altersheim in der Nähe wohnt. Der Hof, in dem sie die Autos umfriemeln, gehörte einem deutschen Schlesier, bei dem Pavel zur Zwangsarbeit eingewiesen wurde. Die Zwangsarbeit war 1945 bekanntlich vorbei und der Schlesier zog in Richtung Westen. Pavel konnte einen sowjetischen Offizier überzeugen, dass es mit ihm und dem Hof seine Richtigkeit hat. Der Offizier stammte aus der Ukraine... [4]
Ständig auszuführen, wie die drei Westautos verschieben, mit Vorliebe Audis, ergäbe Langeweile. Dem Autor, Francis Mohr gelingt es aber, verschiedene Zeiträume durch die drei Kumpane bei Opole zu verknüpfen. Was geschah in Lwiw, als 1941 die deutsche Wehrmacht einmarschierte und nicht nur sich, sondern weitere gegenüber der Bevölkerung unfreundlich handelnde Organisationen im Schlepptau mitbrachte? Kann Pavel dazu was berichten? Was hat es mit der Unterstützung von Galiziern und Ukrainern für die deutsche Besatzung auf sich?
Oder, welche Rollen spielten Polen bei der Verfolgung der Juden in den Ghettos vonWarszawa und Krakow, aus dem Stanis Mutter gerettet werden konnte?
Wie gestaltete sich das Verhältnis der Fans von Lok und Chemie Leipzig zu Zeiten der DDR-Oberliga? Von wem bekommt Hannes nach vielen Jahren dann doch noch das Einklebebild von Hansi Müller auf einem Trödelmarkt voller Militaria? Die letzten Jahre der DDR und ein paar darauf folgende laufen wie auf einer Leinwand am Blogger vorbei.
A propos Roadfiction: Es ist ein großer Spaß, der Führung von Natalia, der Mutter Igors in Lemberg zu folgen, die den Stani und den Igor durch die Straßen führt [5], von Kirche zu Kirche bis in die Oper, in ein ziemlich ukrainisch – nationales Stück.
Lwiw / Lwow / Lemberg ** |
Gegen Ende zeigt sich das Geflecht zwischen den drei „Autohändlern“ durch die Erzählungen des alten Pavel.
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Ein Sprung von Episode zu Episode. Vor und zurück. Durch drei Länder. Gelegentlich ein ganz langes Stück zurück [6]. Städte in verschiedenen Zeiten. Völker und ihre Beziehungen.
Es ist mehr ein deutsches Buch, denn der Rückblick, zum Beispiel auf die Zerstörung Dresdens, auf das Leben in Leipzig und das Studieren in Sachsens Hauptstadt, vor allem die Zustände in der DDR sowie die Wende am Ende nehmen einen großen Platz ein. Trotzdem sind dieser Stani Piatkowski und der Igor Petruk sehr interessante Kontraparts. Ist es schon ein gewaltiger Zufall, dass die sich über den Weg laufen, sind es die nach und nach aufblätternden Beziehungen noch viel mehr, was den Roman spannend macht. Zumal genau diese Beziehungen oft beiläufig eingeworfen werden und wenige Worte und Sätze eine viel umfassendere Bedeutung für den Leser bekommen.
Es ist berührend, gegen Ende des Buches dem Onkel Pavel lesend zuzuhören und zu erkennen, dass die Geschichte der drei durch Autoklau zusammengekommen Freunde – stimmt, das sind nicht nur Kumpane – bzw. deren Familien auf diesem schlesischen Bauernhof kreuzt. Hierin liegt die Botschaft des Autors, der damit etwas Einendes schafft, so seltsam dies erscheinen mag.
Es war ein sehr kurzweiliger Roman, der den Leser schlucken lies und lachen.
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„Zum Abschluss eines herrlichen Abends demonstrierte Vater seinen neuen 3er Golf. Rot. Ein Einjahreswagen. Mit Radio und Kassettenfach. Sommer- und Winterreifen inklusive. Hannes empfahl ihm, den Wagen gut zu versichern und in eine Lenkradkralle zu investieren.
Der Herbst hatte die Leipziger Innenstadt voll im Griff. Der Nachmittag hangelte sich gen Abend. Die Bäume verloren ihre Blätter und das Laub wehte durch die Straßen. Hannes hatte zunehmend Mühe, seine Stadt als solche zu erkennen. Rasant ging es aufwärts. Gebäude wurden entkernt, deren Seelen bei bleibenden Fassaden herausgehämmerc. Glaspaläste wuchsen in Höhe und Breite und begannen, den Wohlstand auszuspeien, nach dem sich so viele gesehnt hatten. Die Straßen wurden verbreitere, Wege neu gepflastert und dafür neue und alte Straßennamen verliehen. Die Universität verlor ebenfalls ihren Namen, Karl Marx kehrte in die Regale der Bibliotheken zurück. Nachts erhellten die Konsumbotschaften in farbigem Neon die Häuser und Wege. Es durfte gebettelt werden. Roma und Deutsche wurden so zu Konkurrenten. Wahlplakate vergilbten an den J\1auern oder auf zertretenen Pappen. Weiße Wände bekamen Kolorit, eine neue Spezies von Künstlern taufte es „Graffiti“ und Hausbesitzer lebten in ständiger Angst vor neuen Parolen in Farbe. Hannes‘ Fußballclub gab sich vorkriegstraditionell und verpuffte als VfB in der zweiten Liga. Als VfB war er nicht mehr sein Club. Aber die Chemiker wollten es noch fetter, adelten sich mit FC Sachsen, panschten allerdings nur noch in der Regionalliga. Manager aus den alten Bundesländern brachten den Clubs das Wirtschaften bei, verzockten sich, gingen und neue Blender kamen. So verloren zwei Fußballclubs ihre Identitäten. Hannes schlenderte die Grimmaische Straße hinauf in Richtung Augustusplatz, der einst Karl-Marx-Platz hieß. Ein Schaufenster hielt ihn auf. Im Grunde war es keines zum Hineinschauen, sondern eines zum Draufschauen. Die komplette Scheibe war mit Urlaubsangeboten bekleistert. Hochglanz bis sonnengebleich c. Nüsse in Kokospalmen, weiße Strände, schneebedeckte Berggipfel, glasklare Seen, in der Hitze flimmernde Pyramiden, grasende Zebras, aufdringliche Affen zwischen Jeeps, dösige Löwen in der Ferne, verwinkelte Schlösser, vollklimatisierte Busse, lachende Reiseleiter, fröhliche Urlauber. Dazwischen in riesigen Zahlen die supergünstigen Preise. Transfer, Übernachtung, Frühstück, Mittagessen, Büfett zum Abendbrot, Besuch des Museums, des Safariparks und der Höhle inklusive. Schnäppchen für ein Jahr Malochen im neuen Büro, hinterm Lenkrad, in Versandhallen. Das Angebot war überschaubar, beherrschte man die Abkürzungen.“ (Seite 370/371)
Hier holt uns der Autor zurück bis in die Gegenwart, auch wenn dies nun schon zwanzig Jahre zurückliegt. Hier findet Hannes sein Glück. Finden es auch Stani und Igor?
Ich habe ja nicht die Angewohnheit, eine Buchbesprechung mit einem Teil „Mein Fazit“ abzuschließen. Hier mache ich das mal:
MEIN FAZIT: unbedingt lesen. „Der Roman ist witzig und kräftig und grob. Ein großer Überblick über die Jahre, die uns so heftig beschäftigen.“ - Christoph Hein (Salomo Publishing)
salomo publishing |
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Flashback (Ost): Ein Flashback ist ein durch Konditionierung bedingter Rauschzustand wie nach der Einnahme von Drogen, ohne dass eine Einnahme von Drogen erfolgt. Im Film: Einzelnes Bild einer Rückblende.
Vielen Dank, liebe Katharina Salomo für dieses Buch, das du mir auf der Buchmesse in Leipzig nun schon fast selbstverständlich in die Hand drücktest.
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[1] Eine deutsche Beschreibung war so schnell nicht zu finden. Daher hier die Übersetzung: „Verwendet für Arbeiten, in denen eine Reise als eine lebensverändernde Erfahrung ein zentraler Teil der Handlung ist.“
[2] Höchstens könnte man noch erwähnen, dass der Modus Operandi, also die Begehungsweise dieser Straftat, die man heute internationale Kfz-Verschiebung nennt, gut beschrieben ist. Der Autor kennt sich aus und die Grenzer waren um 1995 noch weniger auf Autoschiebung, sondern mehr auf das Einfangen von Rumänen, Vietnamesen und Pakistani spezialisiert.
[3] Allerdings lebte der Blogger Anfang der Neunziger in Dresden Coschütz, das ist aber nicht weit weg und in Löbtau ging er zur Schule.
[4] Und der Hannes hatte auch einen Großonkel in Opole und so gibt es eine Reihe seltsamer Beziehungen, die sich in der Roadfiction nach und nach dem Ende zu auflösen.
[5] Eine Stadt, die plötzlich und unerwartet imd den Reisefokus rückt, denn seltsamerweise wurde Lwiw (ukraunisch) oder Lwow (polnisch) oder Lemberg nicht so sehr zerstört bein der Eroberung und Rückeroberung im Kriege.
[6] Das Lemberg mal eine k.u.k. Stadt war, hätte ich nicht gedacht.
► DNB / salomo publishing / Dresden 2018 / ISBN: 978−3−943450−10−1 / 380 Seiten
© Bücherjunge
Quellen:
* CC BY-SA 4.0 File:Montages of Opole, Poland 2014.jpg Erstellt: 7. Oktober 2014; https://de.wikipedia.org/wiki/Opole#/media/File:Montages_of_Opole,_Poland_2014.jpg
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Quellen:
* CC BY-SA 4.0 File:Montages of Opole, Poland 2014.jpg Erstellt: 7. Oktober 2014; https://de.wikipedia.org/wiki/Opole#/media/File:Montages_of_Opole,_Poland_2014.jpg
** Jan Mehlich CC BY-SA 3.0Hinweise zur Weiternutzung File:Lwów - Widok z wieży ratuszowej 01.jpg, Erstellt: 25. Mai 2007 / https://de.wikipedia.org/wiki/Lwiw#/media/File:Lw%C3%B3w_-_Widok_z_wie%C5%BCy_ratuszowej_01.jpg
Kommentar des Autoren auf Facebook:
AntwortenLöschen"Großen Dank für diese sehr differenzierte Betrachtung und ich freue mich, dass wir wohl einige Beobachtungen teilen, die der Osten so in sich barg."
Wieder einmal ganz sicher kein Mainstream Buch. Und was haben wir da schon für Schätze entdeckt! ☺
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