Samstag, 20. Dezember 2025

Schlögel, Karl: Auf der Sandbank der Zeit

Der Historiker als Chronist der Gegenwart

Ist der Historiker ein Chronist der Gegenwart? Zugegeben, ich beschäftige ich mehr mit historischen Romanen als mit Sachbüchern zur Geschichte, obwohl, das Verhältnis ändert sich seit einiger Zeit. 

Ein historischer Roman, so die allgemein verbreitete Ansicht, handelt mindestens vor Lebzeiten des Autors, dies hebt sich bei Sachbüchern sicherlich auf, vor allem dann, wenn die Autoren zum Beispiel die 70 überschritten haben; dies ist hier gerade der Fall.

Einer dieser Momente, also ein Sachbuch-Moment, war der 22. Juli 2022, an diesem Tag erschien die Rezension zu Karl Schlögels ENTSCHEIDUNG IN KIEW. Nun wurde weitere Texte durch den Hanser-Verlag zusammengefasst und nun werden „Historiker als Zeitgenossen, die sie auch sind, eingeholt von der Gegenwart und konfrontiert mit allen Fragen, die sie bisher an die Vergangenheit hatten richten können, und zwar im Ernstfall und in Echtzeit.“ (Vorwort - S. 9)

  • DNB / Hanser13.10.2025 / E-Book / ISBN 978-3-446-28703-7 / 176 Seiten / 16,99 €

Zwölf Texte aus verschiedenen Jahren, nicht chronologisch zusammengestellt, vereinigt das Buch des Historikers, der 2025 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Es ist der Krieg, indem sich die Ukraine gegen Russland verteidigen muss, der alles überstrahlt, der den Historiker umtreibt. 

Schlögel ist auf einer „Sandbank der Zeit gestrandet“ und setzt im dritten Text sein Russlandbild neu zusammen, nachdem er über „die Ordnung im Kopf und die Unordnung der Welt“ reflektierte und die deutsche Szene als eine am 24. Februar 2022 vom Blitzstrahl erhellte beschrieb.

Europa scheint neu vermessen zu werden und dabei spielt der Krieg im Osten, der Putinismus eine Rolle, den er beschreibt, wobei er im Anschluss auf „die neue russische Diaspora“ eingeht. Hat Karl Schlögel in „Entscheidung in Kiew“ auf vielfältig interessante Weise ukrainische Städte in Historizität und Gegenwart vorgestellt, wird in diesem Buch noch einmal Charkiw als Frontstadt vorgestellt, ein Bild was den Krieg im Osten plastisch vermittelt, soweit ein Historiker dies kann.

Für dieses Buch muss man sich Zeit nehmen. Besonders interessant erscheinen mir die Ausführungen zur Erzählbarkeit von Geschichte, wenn es um Zeit, Raum und Gleichzeitigkeit geht. Geschichte wird uns in einem Buch zwangsläufig linear vorgelegt, eventuell mit Rückblenden und Verweisen oder Hinweisen. Dabei verlaufen in einem Raum, beispielsweise einer Stadt, an verschiedenen Orten gleichzeitig Ereignisse, die vielleicht unabhängig von einander oder sich bedingend oder zusammenhängend ein Gesamtereignis darstellen. Manche Zusammenhänge stellt vielleicht erst die darauffolgenden Forschung fest.

Als Beispiel führt Schlögel den „Großen Terror“ des Jahres 1937 an (siehe Rezension zu ZWEI STAATSANWÄLTE von G. Demidow) an.

„Es ging darum, eine narrative Form zu finden, in der das Neben- und Ineinander von Gewalt und Begeisterung, von Ausnahmezustand und Normalität, atemberaubendem sozialen Aufstieg und Vernichtung aus heiterem Himmel, von gezielten Massentötungen und anarchischem Chaos und Anomie erfasst werden konnten. Beides existierte gleichzeitig und gleich-etliche - nicht in der retrospektiven Konstruktion von Historikern, sondern im Erfahrungshorizont der Zeitgenossen…“ (Seite 92)

Die Beachtung solcher Überlegungen würde ich mir für den Umgang mit DDR-Geschichte vorstellen, in einem Schritt weiter bei einer noch nicht existierenden „Geschichte des deutschen Volkes ab 1945“…

Unter „unzähligen“ Querverweisen und Erwähnungen fällt mir die Erwähnung von Bulgakows Roman „Der Meister und Margerita“ auf, den ich demnächst unter diesen Gesichtspunkten noch einmal lesen sollte. Dies gilt ebenso für „Die weiße Garde“ des selbigen Autors, dieser „Stadtroman“ dürfte Raum und Gleichzeitigkeit in Kijw ganz gut beschreiben und passt (historisch) zum Thema.

* * *

Während ich den Text über „Melancholie und Geschichtsschreibung“ als „speziell“ empfand, ist dass, was Schlögel über Putin und den „Putinismus“ ausführt, wieder besonders interessant, kann der Autor doch auf jahrzehntelange Sowjetunion- und Russlandstudien zurückgreifen. „Überlegendes Lesen“ möchte ich die Herangehensweise an Schlögels Ausführungen nennen, man findet Neues, Erhellendes und Bekanntes in einer Mixtur, für die man außerhalb von Nachrichten und „Schnellnachrichten“ Geduld und Zeit aufbringen muss. 

* * *

Ohne Geschichte lässt sich Gegenwart nicht erklären, so wird der Historiker zum Chronisten der Gegenwart, etwas was „er“ vielleicht nie sein wollte, was „er“ aber für neue und neueste Geschichte sein muss. Man kann, was heute von „Neu-Rechten“ immer mal wieder verlangt wird, nicht nur Fakten oder Dokumenten nicht einfach unkommentiert aneinander reihen, man muss, wozu sollte man sonst studieren, auch auswerten, Zusammenhänge herstellen, Ursachen und deren Wirkung beschreiben. In welcher Form das passiert, ob in einem Sachbuch für Geschichte oder journalistisch, ist dabei die Frage, Raum und Gleichzeitigkeit sind Kategorien, die gleichermaßen überlegenswert sind.

Insofern komme ich noch mal auf einen eigenen Vergleich zurück: Karl Schlögel und Peter Scholl-Latour (2024 - 2014). Zwischen diesen beiden wird die Frage nach Historizität und Art und Weise der Erzählung deutlich, beide Publizisten mit unterschiedlicher Erzählform, beide einem vielleicht ähnlichen eigenem Anspruch unterworfen. Ich empfehle sinngemäß beide, wobei Schlögel nach 2014 (Krim) weiterschreiben konnte, was für mich heute „Russland im Zangengriff“ (Scholl-Latour) relativiert, die akademische Form Schlögels erscheint mir nun die für mich bevorzugte zu sein.

© Der Bücherjunge





 

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