Freitag, 5. Dezember 2025

Demidow, Georgi: Zwei Staatsanwälte

 



Manchmal kommt man auf unerwartete Weise zu einem Stoff, so wie zu diesem hier. Denn Verwandte in Buenos Aires - Argentinien - wollten mit mir ins Kino. Eine Freundin von ihnen hatte diesen Film vorgeschlagen. Russisch, mit spanischen Untertiteln. Nur soviel noch dazu: die sprachlichen Fragmente ermöglichten mir den Inhalt zu erfassen, allerdings las ich vorsichtshalber nach, was ich zu Georgi Demidow, zu dessen Roman und Sergej Loznitsa und dessen Film fand. Anschließend lud ich mir das eBook herunter…

Was haben wir gesehen? Ein sowjetisches Gefängnis im Jahre 1937. Ein Häftling verbrennt Briefe von Gefangenen, die diese an die Staatsanwaltschaft oder gleich an „Väterchen Stalin“ geschrieben haben, viele ihre Unschuld und ihren Glauben an die Sowjetmacht beteuernd. Einen behält er zurück, geschrieben mit Blut, vermutlich in einer Einzelzelle (wobei das Wort hier fast schon gemütlich wirkt, wenn man weiß, was das dort bedeutet). Diesen Brief bekommt der junge Staatsanwalt Kornew. Dessen Aufgabe ist (eigentlich) die Aufsicht über die Gefängnisse; als er diese ausübt, erntet er Unverständnis bei den Wärtern und dem Direktor des Gefängnisses. Doch wird er letztlich zum Schreiber des Briefes zugelassen und der bittet ihn, an oberster Stelle zu insistieren. Das tut der Staatsanwalt dann bei „Seinesgleichen“ - dem Generalstaatsanwalt, und der heißt Andrej Wyschinski. Ein Name, bei dem es dem deutschen Kinogänger in B.A. kalt dem Rücken runter läuft, was er im Anschluss erklären wird…

Die Fahrt von Brijansk nach Moskau ist geprägt von den Erzählungen eines alten versehrten Rotgardisten mit Holzbein (der Begriff Prothese scheint gerade unpassend), welcher sogar auf Lenin getroffen sei, aber von der Revolution nicht viel erhalten hat, auch keine Rente… 

Nachdem Kornew sich zu Wyschinski durchgekämpft hat, fährt er zurück. Im Schlafwagenabteil zwei Reisegefährten, die alles dabei haben: Wurst, Brot, ein Gitarre und den unvermeidlichen Wodka. Nach Ankunft nehmen sie ihn im Wagen mit. Das Tor, dass sich hinter diesem schließt, kommt den Zuschauern bekannt vor. 1937 in der Sowjetunion. Vier Jahre vor dem Großen Vaterländischen Krieg…

* * *

Das ist der Film von Sergej Loznitsa. Ohne Vorkenntnisse nicht leicht zu verstehen. Er spielt in der Sowjetunion 1937 - Einer Zeit des großen Terrors. Vielleicht noch erkennbar an den Uniformen der vierschrötigen, grausam oder abgestumpft blickenden Gefängniswärter. 

Im Buch dagegen wird die Zeit, die Georgi Demidow (1908 - 1987) war Physiker. Er wurde 1938 verhaftet, und in Charkow (Charkiv) durch den NKWD verhört, anschließend überlebte er vierzehn Jahre im Gulag an der Kolyma. Trotz Rehabilitation 1958 beschlagnahmte der KGB 1980 seine Schriften, ein umfangreiches Werk. Erst nach der Perestroijka erreichte Demidows Tochter die Herausgabe seines Werkes, welches er zum Zeitpunkt seines Todes als vernichtet glaubte.

In diesem Zusammenhang sei vermerkt, dass Loznitsa ebenfalls studierte und ein Ingenieurdiplom besitzt, erst später ließ er sich zum Regisseur ausbilden. Vielleicht war dies auch ein Grund, sich dem Roman (Novelle) von Demidow zu nähern.

Das Buch ist auf jeden Fall zu empfehlen, denn in diesem erklärt der Autor eindringlich, sachlich und trotz der eigenen Vergangenheit mit Sympathie nicht nur die Denk- und Verhaltensweisen seines Protagonisten, dem jungen Staatsanwalt Kornjew. Demidow beschreibt dem lesenden Publikum die Entwicklung des sowjetischen Rechts, welches oberflächlich in der Verfassung rechtsstaatliche Eigenschaften aufweisen sollte, dies aber Makulatur bleibt. In der Handlung soll die Staatsanwaltschaft die Aufsicht über die Gefängnisse haben, in Wirklichkeit regiert als Staat im Staat der NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheit - Innenministerium, Geheimdienst und politische Polizei zugleich). Regional reicht die Macht soweit, dass selbst Mitglieder der Parteileitungen - hier der anzeigende Häftling Stepnjak, vor dessen Zugriff nicht gefeit sind. In der Erzählung wie im Film wird deutlich, dass der junge Staatsanwalt Kornjew hier aus dem System ausbricht, was ihm zum Verhängnis werden wird.

„Eine große Zahl von Verstößen gegen die sowjetische Gesetzlichkeit wird auch von Menschen begangen, die dem Aufbau des Sozialismus objektiv nicht feindlich gegenüberstehen, die aber ethische Grundsätze der Gesellschaft noch nicht gelernt haben. Unter diesen Bedingungen braucht der sozialistische Staat in zunehmenden Maß eine Armee von hochgebildeten und prinzipientreuen Juristen.“ (Seite 46)

Kornjew lernt als solcher, dass es unter keinen Umständen passieren darf, dass ein Unschuldiger verhaftet wird ohne klare Beweise, die (in Teilen) bei der Verhaftung bereits vorliegen müssen. Danach handelt er. Wobei hinzukommt, dass er sich erinnert, wie Stepnjak einst eine Rede vor den Studenten seines Rechtsinstituts hielt. 

Das Mitglied der KPdSU (B) hat dies verinnerlicht, dass Fehler entstehen bezweifelt er nicht, denn ein Kommilitone ist von der staatlichen Willkür betroffen. Dies führt dazu, dass er, aufgefordert von Stepnjak, der ihm seine Folterwunden in der Zelle gezeigt hat, nach Moskau fährt. Inzwischen weiß er, dass dies schnell gehen muss und gefährlich ist. 

Ausgerechnet beim Generalstaatsanwalt hofft er Gehör zu finden, demjenigen, der das sowjetische „Recht“ maßgeblich fortgeschrieben hat. Wyschinski ist derjenige, welcher „…in wütenden Philippiken… gnadenlos gegenüber den heimtückischen Feinden des Volkes… fast ausnahmslos… das höchste Strafmaß forderte.“ (Seite 50)

Dieser Mann ist es, der als Ankläger in den großen Schauprozessen auftrat (Bucharin, Rykow, Tschernow, Tuchatschewski und viele andere auftrat: „‚Auf ihren Gräbern werden Unkraut und Disteln wachsen. Und wir, die Erbauer des Kommunismus unter Lenins Fahne, unter der Führung Stalins, werden unseren Weg in die strahlende Zukunft fortsetzen.‘ - Die Reden des Generalstaatsanwalts, eines großen Juristen und brillanten Redners, galten damals als unübertroffenes Beispiel für juristische Eloquenz und revolutionäres Pathos.“ (Seite 50)

Dieser Mann schrieb „Recht“, unter anderem ein Gesetz zur Repression gegen Angehörige Verhafteter und Verurteilter. 

Ist das, was Demidow hier darstellt schon Sarkasmus? Es ist eine effiziente und sehr deutliche Darstellung der Verhältnisse und Denkweisen in der Führung und Justiz der UdSSR. Dazu noch folgendes Beispiel:

„Wyschinski entwickelte die Probleme des sowjetischen Strafrechts im Zusammenhang mit den Bedingungen des verschärften Klassenkampfes, der, wie Genosse Stalin vorausgesagt hatte, immer stärker brannte. Dieser Kampf erforderte die Abkehr von verwitterten humanistischen Dogmen wie der berüchtigten ‚Unschuldsvermutung‘. Solche Überbleibsel bürgerlich-intelligenzlerischer Ansichten über die Rechte eines Tatverdächtigen, insbesondere, wenn die Tat konterrevolutionären Charakter hat, behindern den Kampf der proletarischen Diktatur gegen ihre inneren Feinde und werden nun abgeschafft.“ (Seite 119)

Wyschinski war einer der wenigen engen Mitarbeiter Stalins, der einseitig nicht zu dessen bevorzugten „Freunden“ zählte, aber der überlebte. Mehr noch. Wyschinski löste 1949 Molotow als Außenminister ab. Wir lesen, nebenbei erwähnt, dass er unter Diplomaten wegen seiner sprachlichen Eloquenz anerkannt war. 

Demidow zieht keine Vergleiche, er erzählt eine Geschichte, die er aus der Sicht der Verfolgten sehr plastisch und trotz erlittener Qualen sachlich darstellt, gelegentlich vermutet der Blogger etwas Sarkasmus. Dem Leser kommen bezüglich Wyschinskis noch andere Namen in den Sinn: Wütete nicht ein gewisser Freisler ebenso in diversen Prozessen? Für Hilde Benjamin (Richterin und Justizministerin in der frühen DDR) war Wyschinski Vorbild.

Das Buch bietet also weitaus mehr Einblicke in das „Rechtswesen“ der Sowjetunion und überhaupt der im Zuge der Nachkriegsordnung gebildeten sozialistischen Staaten. Am Beispiel zweier „Genossen“ eines System, die vorgaben, an sich gleiche Prinzipien zu ver- und zu befolgen, jedoch gegensätzlicher nicht sein konnten, verstehen wir nach der Lektüre besser, was wir an unserem Rechtsstaat haben. Das ist für den Rezensenten das maßgebliche Ergebnis einer Literaturverfilmung, die zwingend die Lektüre der Vorlage erfordert. Es sei denn, man liest erst und sieht dann den Film, der am 18. Dezember 2025 in die deutschen Kinos kommen soll. Der Film wurde in Cannes 2025 uraufgeführt. Es war bereits die vierte Einladung zum Wettbewerb um die Goldene Palm für Loznitsa. 

Das Buch hingegen erschien im Galiani Verlag, der der sich um selche wiedergefundenen Werke verdient gemacht hat, wobei ich vor allem an WIR SELBST von Gerhard Sawatzky und DURCHBRUCH BEI STALINGRAD von Heinrich Gerlach denke. Die Übersetzung besorgten Übersetzung Thomas Martin und Irina Rastorgueva.


Trailer

© Der Bücherjunge





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