Sonntag, 17. Juli 2022

Schlögel, Karl: Entscheidung in Kiew

„Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird; ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehn wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird; ob die Europäische Union zusammenhalten oder auseinanderfallen wird. Nur so viel ist gewiss: die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden.“ (Seite 11)

Der das schrieb war Karl Schlögel. Und er schrieb dies nicht etwa nach dem 24. Februar 2022, er schrieb es bereits 2015. Es sind die einleitenden Sätze das Buches, welches ich nun hier vorstellen und, ich greife vor, empfehlen möchte: ENTSCHEIDUNG IN KIEW.

Inhalt. Karl Schlögel erzählt zu Beginn auch davon, wie er mit Russland und der Ukraine in Verbindung kam, er blickt kurz in die „Familien-Rezeption“ zurück. Zeitig reiste er als bayerischer Gymnasiast (!) in den 60iger Jahren im Rahmen einer Schülerreise nach Russland. Das Interesse ist geblieben...

Für den überforderten Westen scheint die Ukraine eine Terra incognita zu sein. Diese Beschreibung kann der an Jahren wesentlich jüngere Blogger bestätigen, erst mit dem Jahr 2022 fing ich an das unbekannte Land zu erkunden, wenn auch nur durch Dokumentationen und Bücher.


Schlögel hilft uns Leserinnen die Ukraine zu entdecken. Die Ukraine erscheint so nah und doch so fern, irgendwie schien sie noch vor kurzem nicht unter unserem Horizont. Hinter Polen, so will ich es mal ausdrücken, da war irgendwie Russland. Selbst dann noch, als die baltischen Staaten EU-Mitglieder wurden. 



Majdan 2014
Die Majdan-Revolution (Orangene Revolution) machte auf die Ukraine aufmerksam, die anschließende Annexion der Krim durch Russland und der beginnende Krieg im Osten ließ die Ukraine im Blickpunkt bleiben. Karl Schlögel schreibt vom Krieg, der in unseren Köpfen eher ein „Scharmützel“ zwischen Separatisten, unterstützt von Russland, und der ukrainischen Armee war. Bisher erringt keine Partei irgendeinen Sieg.

Schlögel vergleicht den Konflikt mit dem Jugoslawienkrieg, zu dem es viele Parallelen gäbe, wobei aber neu ist, dass eine Nuklearmacht einen europäischen Staat angreift, und dass dies ein unerklärter Krieg ist, „einer, den es offiziell gar nicht gibt.“ (Seite 93)

Als Leser staune ich immer nur, wenn ich mir bewusst mache, dass der Autor im Jahr 2015 schreibt. Ein Jahr nach Majdan und Krim. Schon damals sprach der russische Außenminister von einem „Genozid am russischen Volk“ in der Ukraine. Lügen und Halbwahrheiten, Propaganda am laufenden Band. Schlögel zeigt uns seine Sicht darauf, wie Putin sich seine „russische Welt“ strickt. Die Ukraine wird zur Frontier Europe. 

Mit dem Gefühl, sämtliche Artikel der einschlägigen Politmagazine der letzten Monate noch einmal gelesen zu haben, wird der zweite Teil des Buches uns Städtebilder verschaffen; Schlögel fängt natürlich mit Kiew an. 

Die zählebigste Stadt der Ukraine. Die Kastanien stehen voller Kerzen – rosa-gelbe Federbusch-Knallbonbons. Junge Damen in geschmuggelten Seidenjacketts. Pogromartig Lindenflaum in der nervösen Mailuft, Großäugige, großmündige Kinder, ein Straßenschuster arbeitet unter den Linden, lebensfroh und rhytmisch.“ (Seite 11)

Das ist nicht etwa von Schlögel, sondern von Osip Mandelstam aus dem Jahr 1926. Karl Schlögel wird in den folgenden Städtebilder immer wieder Dichter zitieren. Es war schon wieder eine bunte Stadt, so kurz nach dem Bürgerkrieg. 

Kiew
Es gelingt mir sogar, in den Zeilen ein wenig von dem wiederzufinden, was mir von 1981  noch erinnerlich ist. Das Höhlenkloster, der  Chreschtschatyk, der Dnipr. Der Autor bringt uns aber weiter zurück in die Geschichte, erklärt die Architektur, alte Gebäude, Baustile und die bunt gemischte Bevölkerung. Ein Dichter, den er, ich würde sagen zwangsläufig erwähnt, ist Michail Bulgakow und seine Roman Die Weiße Garde bzw. das Theaterstück Die Tage der Turbins. In diesem sehen wir das Kiew nach dem ersten Weltkrieg untergehen. Und doch ist es bald wieder eine kulturell blühende Stadt., denn die Sowjetmacht baut die Hauptstadt der Sowjetukraine. Natürlich erzählt er weiter vom Stalinschen Terror, der im Holodomor, der großen Hungersnot mündet, auch von der Herrschaft der deutschen Faschisten im Krieg. 

„Die Wiedergeburt Kiews nach dem Krieg ist wie die von so vielen anderen im Weltkrieg verheerten Städten nicht ganz begreiflich... Man kann vieles anführen, um es zu erklären: der unausrottbare Wunsch der Menschen, sich ihre Heimatstadt immer wieder aufzubauen, sich nicht vertreiben zu lassen... der physische Widerstand gegen das Verschwinden, der selbst noch in den Ruinen steckt, die Hoffnung an den alten Zauber eines doch gelungenen Zusammenlebens in der Stadt wieder anknüpfen zu können, schiere Not, sich auf verbrannter Erde niederlassen zu müssen. Was immer zusammenkommen muss, um an verwüsteten, ausgepowerten, restlos erschöpften Plätzen den Lebensfaden weiterzuspinnen, es bleibt irgendwie – für mich – ein Wunder letztlich nicht ganz erklärbar. Das ist auch in Kiew geschehen.“ (Seite 150)

Der Historiker Schlögel wird es wissen, auch wenn er es kaum erwähnt, die blühenden sowjetischen Städte nach dem Vaterländischem Krieg wurden auch auf Kosten der Landbevölkerung errichtet. Die klaffende Schere zwischen Stadt und Land und damit auch Arm und Reich, war in der Sowjetunion und ist in Russland immer noch zu sehen.

Charkiw 1890
Das Kapitel über Kiew ist aus dem Jahr 2015. In Anschluss setzt der Autor mit weiteren Städten fort: Zuerst mit dem Blick aus dem Jahre 2015 und fortsetzend mit Texten aus alten Reisen. Nach Kiew folgen, Odessa, Jalta und Charkiw. Odessa ist nicht nur wegen der Freitreppe am Hafen aus Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" bekannt. Im Jalta-Kapitel erfahren wir von den Krimtataren und deren Deportation.

Charkiw kannte ich nur als Charkow und aus Kriegsfilmen und Kriegsbüchern. Die „große europäische Stadt war in unserem Horizont abwesend.“ Es ist die zweitgrößte ukrainische Stadt, dicht an der Grenze zu Russland. Wieder lernen wir viele Namen: Koschkin, der den T34 konstruierte, Grigorenko, General und Dissident oder den Dichter Kopolew


Dnipro
Weiter führt uns der Historiker nach Dnipropetrowsk, die auf Fürst Potemkin zurück geht: Ein Rückblick auf die Zeit Katharinas der Großen, daher der alte Name Jekatarinoslaw. Rocket City, in Dnipro wurden Raketen hergestellt, hat sich wie andere nach der Unabhängigkeit der Ukraine neu erfinden müssen.

Donezk und Kriwoj Rog, ich erinnere mich: Geografie. Steinkohle und Eisenerz, Hüttenwerke, Bergwerke... 

Zentrum der Separatisten. Eindringlich schildert Schlögel, dass die Stadt es seit dem Jahr 2014 schwer hat: Die Stadt „sieht aus wie ein Mensch, der tödlich getroffen ist, aber noch nicht weiß, dass er bald sterben wird. Die Stadt ist fast so, wie sie früher war. Fast – weil schon Geschwüre sichtbar geworden sind in Gestalt von Kontrollposten, Betonbefestigungen mit Sandsäcken, maskierten Bewaffneten und Maschinengewehren.“ (Seite 243)


Karl Schlögel vertritt hier die Auffassung, dass es sich bei der separatistischen Besetzung von Donezk bei gleichzeitigen ähnlichen Aktionen in Charkiw, Luhansk und Mariupol „nicht um spontane und zufällige Ereignisse handelte, sondern um eine geplante, koordinierte und gezielte Aktion, dass der handstreichartigen Übernahme der Krim nun um die handstreichartige Übernahme jenes Gebietes folgen sollte, dass als Noworossija, als Neu-Russland, proklamiert wurde und das – im Falle einer Wiederholung des Erfolges auf der Krim – um ‚Schutz‘ durch russisches Militär nachsuchen sollte.“ (Seite 372) 

Hier wird es konkret, die Geschehnisse des Jahres 2014, die wir hier kaum wahrgenommen haben, werden uns vor Augen geführt. Die Beschreibung der Zustände, der Menschen, der Kriegslandschaft: Wieder denkt man, er schreibt von 2022. Das Kapitel beinhaltet natürlich wieder einen tiefen geschichtlichen Rückblick. Aus Donezk stammen übrigens Chruschtschow, Prokowjew und Sergej Bubka, der bekannte Stabhochspringer.


Bf. Chernowitz 1900
Für mich ist jedoch das vorletzte Städtekapitel das beindruckenste: Chernowitz. Eigentlich ist das ja eine habsburgische Stadt, zumindest lange Zeit bis 1918. Ein kultureller Schmelztiegel der mal Knotenpunkt von Eisenbahnlinien war: Berlin – Krakau – Lemberg – Kiew – Chernowitz, oder von Konstantinopel  nach Warschau. Chernowitz war die Hauptstadt der Bukowina. Besonders angetan hat es dem Autor die Dichterin Rose Ausländer, deren Gedichte er zitiert:

... Der Karpatenrücken väterlich lädt ein dich zu tragen / Vier Sprachen Viersprachenlieder / Menschen die sich verstehen“ (Seite 295)

Schlögel besuchte die Stadt 1988, was einem Abenteuer gleichgekommen sein muss. 

„Czernowitz – und sein Schicksal haben so viele Zentren Mitteleuropas geteilt – ist ein Ort, um den historischen Verstand zu verlieren. Daher ist aller Blick auf die schöne Stadt resigniert, nimmt bloß zur Kenntnis, was einmal war und was darin eingelagert ist an heutigem Leben.“ (Seite 318)

 

Lemberg
Es folgt selbstverständlich noch ein langes Kapitel über Lemberg, „eine treibende Kraft auf dem Weg der Ukraine in die nationale Unabhängigkeit und bei der ‚Revolution der Würde‘ auf dem Majdan.“ eine Stadt, die oft andere Herren sah, Habsburger, Polen, Ukrainer, Deutsche, die Sowjets..., in der man sich in Polnisch, Jiddisch, Ukrainisch und Deutsch verständigen kann. 

Hier scheint es dem Autor, als wären seine Gedanken und Bemerkungen falsch, „weil es die Beobachtungen eines Fremden sind, der am Eigenleben einer solchen Stadt nicht teilhat“ (1988)

Gerade Lemberg, Lwiw (ehemals Lwow) und seine Geschichte spiegeln das politische Dilemma der Ukraine wieder; hier blickt man nach Europa, hiewr blühte auch der ukrainische Nationalismus. 

* * *

Das Buch. Vor uns liegt ein Buch, hoch aktuell und historisch zugleich. Wir hatten die Ukraine nicht auf dem Schirm, hier tritt sie vor uns und hätte es von sieben Jahren schon können, wäre uns das Buch vor die Augen gekommen. 

Der Autor fast zusammen, er erwähnt im letzten Kapitel Der Schock. Den Ersntfall denken die Fragen nach dem „Nationalismus und dem Staatsstreich einer faschistischen Junta in Kiew“, mach ukrainischen Antisemitismus, der Beeinflussung des Majdan durch die USA, den Abschuss der Maschine der Malaysia Airlines, Behauptungen der russischen Propaganda und anderen, auch bei uns zu Hause.

„Man spürt geradezu physisch, wie die vertraute Umgebung sich auflöst, wie das freie unbefangene Gespräch mehr und mehr verschwindet. Man hört auf Zwischentöne und Andeutungen, die Aufschluss geben könnten über die Einschätzung des Gegenüber. Man weiß nicht mehr, wie der Kollege, der Freund, die nächste Umgebung in puncto Ukraine und Russland ticken, man vermeidet daher von vornherein, das Thema überhaupt anzusprechen. Man beobachtet die Spaltung sowohl des engeren Kreises derer, die ihr Lebtag lang sich mit Russland und Osteuropa beschäftigt haben, als auch einer weiteren Öffentlichkeit, die aus verschiedensten Gründen besorgt ist oder nicht wahrhaben will, was vor sich geht.  

Und so geht das nun schon seit über einem Jahr...“ (Seite 349)

 


Das geht nun schon so seit acht Jahren und seit dem 24. Februar noch verstärkt. Heute kommt hinzu, dass der örtlich begrenzte Krieg in der Ostukraine ausgeweitet wurde und in Russland immer noch „militärische Spezialoperation“ heißt. Luhansk ist eingenommen, Donezk auch, Russland startet eine neue Offensive und bombardiert werden wieder Ziele im Inland. Der Westen liefert inzwischen Waffen an die Ukraine, vielleicht nicht genug, die Ukraine ist EU-Beitrittskandidat und Schweden und Finnland haben die Mitgliedschaft in der NATO beantragt. Intellektuell verlangen mehr Verhandlungen für einen Waffenstillstand, die Welt diskutiert, ob die Ukraine kapitulieren soll, oder gewinnen. Außerdem höre ich in der „Nähe“ auch Stimmen nach dem Motto: „Die Ukraine geht uns doch gar nichts an.“ Schlögels Buch aus dem Jahr 2015 liest sich, als wäre es im März 2022 rausgekommen und doch wäre es anders geschrieben. 


© Peter-Andreas Hassiepen
Er selbst meint:

„Historiker sind nicht automatisch kompetent für die Analyse und Kommentierung der aktuellen politischen Entwicklung, aber als Zeitgenossen, die sie auch sind, sind sie doch aufgefordert, Stellung zu beziehen im Hin und Her widerstreitender Interpretationen, die, wie sich bald herausstell sollte, Teil dessen wurden, was man als Informationskrieg neuen Typs bezeichnete.“ (Seite 347)

Es bleibt die notwendige Beschäftigung mit den geschichtlichen und sozialen Hintergründen nicht nur für den Historiker, sondern auch für den Blogger hier.


Dieses Buch bot viel mehr, als ich von einem Buch über die Ukraine nach dem Majdan erwartet hätte, vor allem den Blick auf eben diese Hintergründe. Ukrainische Lektionen. Wie wahr.

Aktuell traf Karl Schlögel im Format Politik trifft Buch auf der Buchmesse Frankfurt a.M. 2022 auf die Bundesverteidigungsministerin Christine Lamprecht. Eine der Aussagen des jahrzehntelangen Kenners der Sowjetunion, Russlands und der Ukraine lautete, dass er 2014 erneut zur Schule gegangen wäre. Für Frau Lamprecht war es wohl eher der 24. Februar 2022.




© Bücherjunge (15.11.2022 / 17.10.2024)

2 Kommentare:

  1. Eine sehr ausgiebige Besprechung, gefällt mir! Man merkt, wie sehr dir dieses Thema zu Herzen geht.

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  2. Aktuell gefunden: "Politik trifft Buch" auf der BMF22 und verlinkt. Karl Schlögel trifft auf Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht.

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