Dienstag, 22. Februar 2022

#ichbinsophiescholl - Ein Projekt des SWR


Heute, am 22.Februar 2022 geht ein Projekt zu Ende, welches ein besonderes Projekt war. Es ist ein besonderes Datum, denn die junge Betreiberin des Projektes wurde am heutigen Tag vor 79 Jahren hingerichtet nachdem sie ebenfalls heute erst in München zum Tode verurteilt wurde. Am 18. Februar wurde sie gemeinsam mit ihrem Bruder verhaftet.

Ich denke, dass informierte Leser wissen, von wem hier die Rede ist, es ist Sophia Magdalena „Sophie“ Scholl, geboren am 09. Mai 1921. Das Projekt, von dem ich schreibe, ist der Instagram-Kanal #ichbinsophiescholl

Der SWR hat das Projekt im April 2021 gestartet, kurz vor dem 100. Geburtstag der jungen Widerstandskämpferin. Es war der Tag, an dem Sophie Scholl von Ulm nach München fährt, endlich studieren, endlich frei, endlich ihren Bruder Hans wieder sehen. An diesem Tag beginnt Luna Wedler, eine junge österreichische Schauspielerin, unter #ichbinsophiescholl ihr Leben öffentlich zu machen mit den Mitteln von Instagram. 

Von vornherein erklärten die Produzenten, dass der Kanal bis heute, den Tag der Hinrichtung laufen wird, Luna/Sophie wird, verständlicherweise, am Tag der Verhaftung aufhören würde zu filmen und zu fotografieren. Letzten Freitag war es soweit: Ich fühlte mich in den Film mit Lena Stolze versetzt, in die hakenkreuzfahnengeschmückte Eingangshalle der Universität München, die letzten Bilder der Bloggerin im Zimmer des Rektors, der Sophie und Hans der Gestapo übergeben wird.

Neunhundertvierundzwanzigtausend „Follower“ hatte der Kanal in Spitzenzeiten, heute sind es siebenhundertsiebenundsechzigtausend, die den dreihundertneunzig Beiträgen folgten, den zweiundfünfzig Insta-Filmchen, den zweiundvierzig Wochenzusammenfassungen, den hunderten Kommentaren pro Tag, oder pro Beitrag (rund 66000 insgesamt): Es ist ein gewaltiges Paket, welches da entstand, auch wenn es den Umfang eines Kinofilmes nicht erreicht.


Die Idee, so schreibt der SWR auf der zum Kanal gehörenden Webseite, entstand in der Geschichtsredaktion des SWR, die Projektumsetzung mit dem BR und anderen Partnern.

Über Recherche und die historische Prüfung schreibt der SWR:

„Für die inhaltliche Annäherung haben die Macher*innen zunächst die Historie von Sophies Leben sowie die historischen Ereignisse im Zeitraum der zehnmonatigen Ausspielungszeit von Sophies Ankunft in München am 4. Mai 1942 bis zu ihrer Hinrichtung am 22. Februar recherchiert und in Zusammenarbeit mit der Historikerin Dr. Maren Gottschalk (“Schluss. Jetzt werde ich etwas tun. Die Lebensgeschichte der Sophie Scholl” und „Wie schwer ein Menschenleben wiegt“) historisch geprüft.“

Sophie Scholl, Bloggerin, Widerstandskämpferin, harter Geist, weiches Herz, so ist #ichbinsophiescholl unterschrieben, zu Beginn stand da noch was von Kaffeeliebhaberin...

Ich nehme es vorweg: Das Projekt hat seinen Zweck vermutlich erfüllt. Ich weiß nicht, wie viele Leute sich erstmals mit der Weißen Rose und ihren Mitgliedern beschäftigten, Follower, die von Insta auf  den Buchhandel schalteten und tatsächlich eine der Biografien von Sophie Scholl bestellten. Es waren sicherlich eine Menge, die sich an den Interaktionen durch die Kommentare beteiligten, die nach und nach von einigen mit „Kalenderblättern“ versehen wurden. Diese Kalenderblätter erhielten eine wichtige, von den Produzenten vielleicht weniger beabsichtigte oder vorausgesehene  Funktion, sie erinnerten an die Verbrechen der Nazis. Sie informierten über Hinrichtungen, Deportationen, Kriegsgeschehnisse und mehr. Gleichwohl dürften sie auf die Interaktion gespannt gewesen sein.


Der Kanal folgt den Geschehnissen, die vor allem aus dem Tagebuch der jungen Studentin, Erzählungen ihrer Schwestern, ihrem Verlobten stammten, bzw. den Erkenntnissen, die die historische Wissenschaft erarbeitete. 

Aber wie füllt man ein Instagram-Tagebuch, welches täglich über einen Zeitraum von zehn Monaten einen Beitrag leisten muss? Wer stellt schon täglich was auf "Insta" ein, wenn er oder sie nicht zur Gruppe der  "Influenzer" gehört? Da hilft etwas, woraus die Produzenten kein Hehl machten: Fiktion.

Also ist nicht jeder Beitrag erstens erwiesen, zweitens zeitlich und örtlich korrekt und drittens in einen absolut richtigen Zusammenhang gestellt. Das deutlichste Beispiel ist das letzte auf dem Kanal: Hans und Sophie wollen das letzte Flugblatt am Tag von Goebbels Sportpalastrede („Wollt Ihr den totalen Krieg?“) auslegen. Goebbels sprach tatsächlich am 18. Februar 1943, jedoch war dies öffentlich nicht bekannt, damit angloamerikanische Bomberverbände nicht ausgerechnet zum Zeitpunkt der Rede über Berlin flogen.

Es gibt Stimmen und Kommentare, wonach Beiträge von Feiern, Geburtstagen, Ausflügen in die Umgebung ablenkten von den Schrecken der Naziherrschaft, die Fiktionen schon fast Geschichtsfälschungen wären. Sophie Scholl soll gern gezeichnet haben, also veröffentlichte man auch Zeichnungen, die vielleicht von ihr hätten sein können. Unter Anderen eine, in der #ichbinsophiescholl einen Brief von Hans von der Ostfront (Sanitätseinsatz der Studentenkompanie – Medizinstudenten) eine Begebenheit so interpretiert, in der die Studenten mit Personal, dabei russische Krankenschwestern, irgendwas feierten. Dies nahm zum Beispiel Jan Böhmermann in ZDF Magazin Royale im ZDF am 19. Februar 2022 aufs Korn. 

Es gibt so einige Beispiele, die hinterfragt werden könnten, dies ist in der Community auch geschehen. Regelmäßig kam die Forderung „Nur Fakten!“ oder die Bitte nach Fußnoten drin vor, regten sich Follower über die nächste Fiktion, im Nachhinein erklärt von #sophiesoffer, auf. Von Geschichtsfälschung war die Rede, von einer Beschädigung des Gedenkens an die Weiße Rose, es bleibt aber unbedingt festzuhalten, dass dies hier keine Dokumentation war und einem herkömmlichen, wenn auch sehr ernsten Instagram-Account nahe kommen sollte. Die Redaktion hat eine Reihe von unziemlichen Kommentaren mit Recht gelöscht und regelmäßig wies #teamsoffer auf Einhaltung der Regeln hin.

Luna Wedler erzählt in einem Live-Video am 23.02.1922, dass sie ihrer Heldin durch das Lesen von Briefen, zum Beispiel den Briefwechsel mit deren Verlobten Fritz Hartnagel, in den "Kopf gucken konnte" und dass sie die Art und Weise, wie die Menschen damals Briefe schrieben, sehr beeindruckt hat. Dass Sophie Scholl nicht nur Widerstandskämpferin war, sondern eine junge Frau mit Liebesproblemen und vielem mehr. Wedlers Spiel hat dies und ebenso die letzten Tage mit enormer Anspannung und auch Angst vor dem "Erwischtwerden" so dargestellt, dass die Community das angenommen hat.

Es gab die vielen Follower, in der Hauptsache vermutlich junge Mädchen und Frauen, die versuchten, sich mit der Studentin zu identifizieren und sie zu verstehen. Während zu Beginn die Mitgliedschaft von Sophie im Bund deutscher Mädel (BDM) und Hans in der Hitlerjugend (HJ) lange Zeit Thema waren, änderte sich das ab dem Zeitpunkt in etwa, als Sophie mittbekam, was ihr Bruder und Andere als Weiße Rose taten. Ihre Hartnäckigkeit, ihr Mitmachen einfordernd, brachte Instagram-Sympathisanten, die den unzweifelhaften Mut der Studentin für Biologie und Philosophie, bewunderten.

Wer dem Kanal regelmäßig besuchte, fand insgesamt einen zehnmonatigen Rückblick in relativer Echtzeit vor, lernte die Weiße Rose, die Traute Lawrenz, den Alexander Schmorell, Schwester Inge, Fritz Hartnagel und Professor Huber kennen, bekam einen Einblick in die Flugblätter und so die Gelegenheit, sich in der der Bundeszentrale für politische Bildung oder in Büchern weiter zu informieren.

Genau darin sehe ich den Verdienst dieser in der Aufmachung professionellen, jugendgerechten Arbeit, die mitnichten durch die „alltäglichen“ Geschehnisse die Zeit des Nationalsozialismus verharmlost. Die "Normalität", in der 1942 bis Anfang 1943, also bis zur verlorenen Schlacht von Stalingrad, das Leben ablief, unterbrochen von Verhaftungen, Propaganda, Wehrmachtsberichten und Deportationen und Bomberangriffen seit März 1942, sollte nicht als erschreckend, in der Darstellung verharmlosend angesehen werden. Sie gehört dazu und ist Sinnbild dafür, dass sich das Regime unter großer Zustimmung entwickeln konnte – bis hin zur Wannseekonferenz im Januar 1942 und der danach zur Perfektion getriebene Vernichtungsmaschinerie.

Dieser Kanal zeigt letztlich insgesamt, wie sich eine Gruppe junger Leute, meist Studenten, von Hitler und Co. zujubelnden, begeisterten Kindern und, in den NS-Jugendorganisationen jahrelang auch verantwortlich arbeitenden Schülern, zu ganz anders denkenden Studentinnen und Studenten mit enormem Bewusstsein für Unrecht und Verbrechen entwickelten und anfingen, aktiv gegen dieses Regime zu arbeiten. 

Die Filme über die Weiße Rose, im Prinzip auf fast den gleichen Quellen beruhend wie dieses Instagramm-Projekt eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, sind letztlich ebenfalls fiktionalisiert, denn wir haben keine Kenntnis von dem, was tagtäglich, vierundzwanzig Stunden in der Gruppe passierte, was gesprochen, was unternommen wurde. Vor allem sollte man sich vor Augen halten, dass die immer deutlicher hervortretenden Verbrechen, vor allem seit dem 9. November 1939, der Reichspogromnacht und den Berichten der Frontsoldaten, einerseits eben zu Widerstandsverhalten führten, und andererseits Angst und Abscheu ausgehalten werden mussten. Um so mehr dürfte jede freundschaftliche und familiäre Ablenkung, die Ausflüge, Camping, Geburtstage, Reisen nach Hause wichtige Abwechslungen gewesen sein. Genau dies zeigt der Kanal und Luna Wedler bringt das sehr gut herüber.

Am Ende bleibt auch hier, neben der Hochachtung für den Mut und die Arbeit der Angehörigen der Weißen Rose, die Erkenntnis, dass ihr ein unmittelbarer Nutzen zu Lebzeiten versagt blieb, auch wegen einer gewissen Unvorsichtigkeit bei der Umsetzung der Flugblattverteilung. Die vor allem internationale Wirkung der Flugblätter nach ihrem gewaltsamen Tod bekamen Sophie, Hans, Alex, Christoph und ihre Freunde nicht mehr mit. 

Bezogen auf die Follower aber wird so manchen Jungen und vor allem Mädchen bewusst geworden sein, dass Sophie Scholl und die Weiße Rose etwas verkörpern, was als etwas Großes bezeichnet werden darf und muss. 

Den Produzenten und den mitwirkenden Schauspielen, insbesondere der Luna Wedler. sei Dank gesagt für ein mutiges Projekt mit großer Reichweite. Die Methoden zum Darstellen deutscher Geschichte sind um eine weitere bereichert wurden. Dabei spielt es keine Rolle, dass es ein solches Projekt bereits einmal gab: Mit eva.stories versuchte man zu zeigen, wie es wäre, wenn ein junges Mädchen während des Holocausts Instagram zur Verfügung gehabt hätte. Auch dieses Projekt hatte einen ziemlich großen Erfolg und wurde ebenfalls kontrovers diskutiert.

Ich bin dem Account gefolgt, nicht bei jedem Post bis die Tiefe der Kommentare, habe den Kopf geschüttelt bei so manchen Diskussionen, staunte über die emotionale Nähe, die Jugendliche dabei zu #ichbinsofiescholl entwickelten und war verblüfft, über die teilweise hervortretende Unkenntnis der Geschichte des sogenannten Dritten Reiches. 

Das gelegentlich Kommentare auftraten, die in den Corona-Maßnahmen der Regierung eine Diktatur sehen wollten und diese mit der Nazidiktatur verglichen, war zu erwarten. Soweit ich das überblicke, wurde dem aber sofort nicht nur durch die Betreiber des Accounts Einhalt geboten, oft sogar noch schneller durch andere Follower. 

Etwas schade finde ich, dass den anderen Mitgliedern so wenig Raum gegeben wurde. Von den Mitgliedern der Weißen Rose sticht, wie schon so oft, die junge Sophie hervor, obwohl doch der Widerstand und die Flugblatterstellung durch Bruder Hans und seine Freunde bereits vorher begann. Grund dafür war vermutlich auch deren erste Erfahrungen an der Front. 

Die Geschichte endet hier. Die letzten Posts beinhalten die Originalbilder der verhafteten Mitglieder der Weißen Rose, komplettiert durch die Gesichter der Schauspieler. Sicher kommt noch dieser oder jener Post dazu, aber das Projekt ist nun abgeschlossen. Mit 700 000 bis 900 000 Followern sicherlich, das sei wiederholt vermerkt, ein Erfolg.


* * *


Zwei Dinge fielen zusammen, als ich hier auf dem Blog eine Grafic Novel besprach zu Sophie Scholl. Der Ausgangspunkt war ein Plakat eines AFD-Kreisverbandes, welches Sophie Scholl und eine Flugblatt-Aussage in einen unerträglichen Zusammenhang stellte. Die übliche Internetrecherche, zum Beispiel der späteren internationalen Wirkung der Flugblätter, machte mich auf den Instagram-Kanal #ichbinsophiescholl aufmerksam. Ihm zu folgen und am Schluss über diese Art von Rezeption zu schreiben, gegen das Vergessen, stand als Ziel sehr schnell vor Augen.

Gegen das Vergessen ist ein häufiger Grund für einen Post auf diesem Blog. Natürlich bot das SWR-Projekt sich dafür an.


© Bücherjunge






2 Kommentare:

  1. Eine tolle Zusammenfassung der beeindruckenden Instagram-Aktion, die ich (loser als du) ebenfalls verfolgt habe. Die Idee fand ich ebenfalls sehr beeindruckend, und wie sich immer wieder zeigt, ist es so wichtig, gerade auch den jungen Leuten die Geschichte näher zu bringen. Eben auch unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel und sozialer Medien...

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  2. Das Instagram-Projekt begann im April / Mai 2021, weil sich am 09.Mai 2021 der Geburtstag von Sophie Scholl zum einhundertsten Mal jährte. Daher endet es im Februar 2022 und nicht zum 80. Jahrestages der Vollstreckung des Todesurteils am 22. Februar 2023 (1943)

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