Montag, 14. August 2023

Caesar, Mary: Meine Reise zur Heilung - Überleben in der Residential School

Es ist noch nicht lange her, 1998/1999, da entschuldigte sich der kanadische Ministerpräsident und die beteiligten Kirchen, mehr oder weniger inoffiziell, für den Versuch, ganze indigene Kulturen auszulöschen: kurz für ein Menschheitsverbrechen mit genozidalen Merkmalen. Ausgerechnet Schulen dienten dazu.

Diese Residential Schools, in den USA oft Border Industrial Schools genannt, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wurden (in Kanada) bis 1996 (!) betrieben.

Die 1955 geborene Mary Caesar, Kaska First Nation, absolvierte eine solche Schule und begab sich auf ihren „Weg der Heilung“. Mit Kunst und Lyrik, Malerei und Erzählungen hat sie diesen autobiografischen Weg veröffentlicht. Sie überlebte die oft unmenschlichen Bedingungen in einer dieser kirchlich geführten Einrichtungen.

Mary Caesar erzählt von ihren Cousins und Cousinen, die gleich ihr eine solche Schule besuchen mussten. Sie erzählt vom Verbot der Muttersprache, dem Haare abschneiden, von Schlägen, von sexuellem Missbrauch an den Kindern und Jugendlichen und davon, dass so manche auch in späteren Jahren den Freitod wählten oder am Alkohol zugrunde gingen.

Diese Berichte sind als solche nicht neu. Wir kennen sie aus der Literatur und aus Filmen. Wenn Liselotte Welskopf-Henrich in ihrer Pentalogie DAS BLUT DES ADLERS davon erzählt, dann geht es, hier in den USA um in etwa den Zeitraum, in den Mary Caesar in Kanada ein solches Internat besuchte.



indianische Autoren
Ein eindrucksvolles Beispiel lieferte Zitkala-Ša mit ihrer Erzählung  Impression of an Indian Childhood. Die Autorin aus dem Yankton-Dakota-Volk, wurde bereits im Jahr der Schlacht am Little Bighorn (1876) geboren, und wurde somit eine der ersten Schülerinnen, die eine solche Internatsschule besuchte. Sie allerdings unterrichtete später selbst an der Carlisle Industrial School und damit an der Einrichtung, die einst der US-Offizier Richard Henry Pratt begründete. Die Geschichte dieses Instituts wurde eindrucksvoll in der fünften Folge Wissen ist Macht der US-amerikanischen Miniserie INTO THE WEST, produziert von Steven Spielberg, erzählt. Besagter Pratt erklärte es zum Ziel, die Indianer zu assimilieren, zu amerikanisieren und meinte: „ Assoziation of races and classes is necessary to destroy racism and classism.“*

Zitkala-Ša erscheint angesichts der Heilungs-Reise von Mary Caesar eine Ausnahme zu sein, beide aber wurden Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, die ihre Erlebnisse in unterschiedlichen Jahrzehnten veröffentlichten.

Mary Caesar konzentriert sich in ihrem Buch auf ihre Art und Weise mit den eigenen Erlebnissen und deren Folgen umzugehen. Schreiben und Malen sind ihre Methoden und die Erinnerungen an andere, die letztlich die Schulzeit nicht „überlebten“. Diese Anführungszeichen stehen dafür, dass es nicht nur um das reine Überstehen des Internatsbesuches fernab der Heimat und den Eltern ging, sondern auch um das weitere Überleben, die Überwindung der Traumata. Hierfür war insbesondere von Bedeutung die Hilfe untereinander. Die indianischen Traditionen, die Mythen, die Hilfe untereinander, die für so manche ehemalige Schülerin, so manchen ehemaligen Schüler zu spät kam. 

Eindrucksvoll ist die Erzählung über ihren Schulfreund Frank, in der sie die Wirkung der Priester und Nonnen auf die Kinder beschreibt, oder die über ihren Bruder Paul, in welcher die Erniedrigung des gleichen topfförmigen Haarschnitts für die Kinder dargestellt wird. 



Bilder-Collage

Das Gedicht Warrior / Kriegerin zeigt die Besinnung auf Ursprung und Kraft, I have a Vision / ich habe einen Traum vom Tag, an dem die Kaska First Nation „geheilt sein wird“ von all dem Unrecht, welches ihm und den anderen Völkern widerfuhr. 

Text-Collage

Das broschierte Buch besticht durch die vielen Bilder der Autorin, die die Texte oft untermalen und die Qual, den Schrecken und die Angst ausdrücken, aber auch die Schönheit der Heimat am Yukon.



Bilder-Collage

Zudem liegt ein zweisprachiges Buch vor uns, denn alle Texte wurden in englischer und deutscher Sprache abgedruckt. 

* * *

Auch in Europa kennen wir Internatsschulen, in denen im Verlaufe vieler Jahrzehnte unmöglichste und auch grausame Zustände herrschten, Missbrauchsskandale sind auch hier nicht unbekannt. Es dauerte lange, ehe diese so öffentlich wurden, dass Wegschauen nicht mehr funktionierte. 

In Kanada begann der Prozesse zumindest von staatlicher Seite sehr spät. Ich erwähnte schon, dass Ministerpräsident Harper 1998 und Ministerpräsident Trudeau 2017, sich dafür entschuldigen. Letzterer bedauerte 2017 vor der UN-Vollversammlung „Kanadas ‚schändlichen‘ Umgang mit den Urvölkern.“ Inzwischen flossen Millionen kanadischer Dollar an Opfer, dabei auch bis zu 20.000 Zwangsadoptionen. Es ist wohl das erste Mal, dass ein westliches Land eigenes staatliches Handeln als Verbrechen bezeichnete. Das Verbrechen, in dem die kulturelle Identität der Kinder staatlich und kirchlich bekämpft wurde, ihnen suggeriert wurde, dass ihre Lebensweise minderwertig sei, erhält mit dem Fund einer Vielzahl von nicht gekennzeichneten und Massengräbern mit Kinderleichen im Jahre 2021 ein neues Format. Von 150.000 unterrichteten Kindern sind 3200 bis 4100,meist an Tuberkulose verstorben, gab das national Centre for Truth and Reconcilation an.* Hier erklärt sich auch das Wort ÜBERLEBEN noch einmal eindeutig.

Das Buch von Mary Caesar wurde 2014 im Traumfänger-Verlag  veröffentlicht. Ihr Werk und das vieler anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler indianischer Völker hat sicherlich dazu beigetragen, dass Kanadas Regierung gezwungen wurde, bzw umdachte, das genozidgleiche Verbrechen zu benennen und zu handeln. Es ist, angesichts der erwähnten Massengräber noch nicht vorbei. Wann folgt die USA?

* * *

Traumfänger Verlag



* Zahlen und Daten wurden für diesen Post den Wikipedia Artikeln Residential Schools und "Richard Henry Pratt" entnommen.

  • DNB / Traumfänger-Verlag / Hohenthann 2015 / ISBN: 9783941485-39-6 / 145 Seiten
 
© Bücherjunge


1 Kommentar:

  1. Es gibt so viele totgeschwiegene Gräuel - immer gut, wenn die Betroffenen einen Stimme haben, die gehört wird...

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