Mittwoch, 8. Februar 2023

Tishby, Noa: Israel - Der Faktencheck...

Faktencheck über das 
am meisten missverstandene Land der Welt

Israel. Missverstanden hab ich es in der meisten Zeit meines Lebens sicherlich. In der Jugend vor allem durch überhaupt fehlende Information und in der Annahme, die verteidigungswürdige Seite wäre die palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), stand doch deren Anführer Yassir Arafat des Öfteren auf der Ehrentribüne am 7. Oktober. Damit ist klar, wo ich herkomme: Die meisten DDR-Kinder sahen das Land vermutlich einzig als Handlanger der imperialistischen USA.

Erst später, nach 1990 und durch viele neue historische Romane beschäftigte ich mit plötzlich mit Land und Leuten. Hinzu kam eine gewerkschaftliche Studienreise im Jahre 2009. Und dazu las ich ein Buch. Vorher. Und hinterher noch viele mehr.

Vor einigen Wochen bot mit Literaturtest dieses Buch zum Lesen an. Keine klassische Sachbuchautorin, keine Historikerin, keine Politikerin ist Noa Tishby, nein, diese 1975 geborene Frau ist Filmproduzentin und Schauspielerin. 

Vielleicht erinnern sich Leserinnen oder Leser an das Schiff, welches am 31. Mai 2010 durch die israelische Marine geentert wurde. Ein Konvoi von mehreren Schiffen wollte die Blockade des Gaza-Streifens durchbrechen und Hilfsgüter nach Gaza bringen. Neun türkische Staatsangehörige kamen bei der Aktion ums Leben. Unter anderem waren Henning Mankel und zwei linke Bundestagsabgeordnete, Anette Groth und Inge Höger, mit an Bord. Wurden Waffen an Bord gefunden? Zumindest nahmen die Israelis und dies nicht nur von ungefähr an.

„Die Planung und Durchführung der Konvoi-Aktion erfolgte maßgeblich durch die türkische Organisation İnsan Hak ve Hürriyetleri ve İnsani Yardım Vakfı (IHH). Beteiligt waren das internationale Free Gaza Movement sowie die griechische Organisation Boat for Gaza.“ Und diese hat Verbindungen zu islamistischen Organisationen... (Wikipedia)

Dieses kontrovers diskutierte Ereignis und andere Begebenheiten bewegte die in Amerika lebende Noa Tishby dazu, letztlich einen „Faktencheck“ zu verfassen. Und der liegt nun hier vor. 

* * *

Noa Tishby schreibt in drei Teilen vom Träumen, vom Verwirklichen und vom Sein. Traum, das steht für den Traum der Juden von einer eigenen Heimstatt, ein Ziel, welches mit Entstehung des Zionismus auf die weltpolitische Tagesordnung gehoben wurde. (Theodor Herzl: Der Judenstaat).

Die Geschichte der Autorin, eine "kurze" Geschichte des Landes Israel, den nahen Ostens und des Zionismus ist Inhalt des ersten Kapitels. Besonders interessant sind dabei die Hinweise auf einen gewissen E.T. Lawrence, besser bekannt als Lawrence of Arabia, der mit einem arabischen Prinz namens Faisal befreundet war. Lawrence setzte sich für gute Beziehungen zwischen Juden und Arabern ein: Bei den Treffen zwischen Prinz Faisal und Dr. Chaim Weizmann (Anführer der zionistischen Bewegung und erster Präsident des späteren Israels) fungierte er als Vermittler. Man stelle sich das heute vor: Ein Brite vermittelt zwischen Juden und Arabern. Wie kompliziert war dagegen die Lage in den Jahren 1947/48.

Tishby zitiert aus einem Brief Faisals an Weizmann, lest den Text im nächsten Bild.



Verwirklichungen: Verwirklicht wurde der Staat Israel im Jahre 1948. Vorausgegangen war eine Resolution der neu aus dem Völkerbund hervorgegangenen UNO, die sowohl Arabern in Palästina und Juden in Palästina ihren jeweils eigenen Staat zubilligte. Die Juden, in den letzten 60 bis 60 Jahren und insbesondere nach dem Holocaust nach Palästina eingewandert waren, nahmen dies sofort an. Die Araber lehnten diese Lösung ab. Und als David Ben-Gurion die Worte sprach: "Und dieser Staat besteht JETZT!" begann der Krieg, der Angriff der arabischen Nachbarn erfolgte vier Stunden nach Proklamation des Staates Israel.

Das ist das Thema des zweiten Teils indem das ständige Tauziehen zwischen Krieg und Frieden behandelt wird. Tishby betont deutlich, dass sie als linke Zionistin den Siedlungsbau sehr kritisch betrachtet und macht gleichzeitig deutlich, dass israelische Araber in der einzigen Demokratie des Nahen Ostens die gleichen Rechte wie die israelischen Juden und andere religiöse Minderheiten haben. 

Was sie allerdings nur nebenbei erwähnt, ist, dass terroristische jüdische Organisationen wie Lechi und Irgun, letztere unter Anderen geführt von Menachem Begin (späterer Außenminister und Ministerpräsident) Attentate gegen die britische Besatzungsmacht und gegen arabische Gruppen durchführten. 

Wie diese Staatsgründung ablief, im Vorfeld und in der Folge, habe ich mehrfach hier im Blog behandelt. Eine beachtenswerte und kritische Darstellung liefert Tom Segev in seinen Büchern, zum Beispiel in Die ersten Israelis und Es war einmal ein Palästina. Welche Bedingungen in Palästina herrschten zeigen neben den vielen Büchern auch solche Filme wie EXODUS und vor allem GELOBTES LAND



Sein. Die Gegenwart.  Die Themen, mit denen sich Noa Tishby im dritten Kapitel beschäftigt sind Rassismus, Antisemitismus und Israelfeindlichkeit. Im Zentrum steht dabei der sogenannte BDS. Das steht für Boycott, Divestment, Sanctions. Das ist der geforderte Wirtschaftskrieg gegen das Land, dessen Sicherheit nach einem vielzitierten Satz der Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel Staatsräson für Deutschland ist. 

Drei Ziel verfolge der BDS: Da wäre erstens die Forderung nach dem Ende der israelischen Besetzung und Kolonialisierung allen arabischen Landes. Dies beträfe dann vor allem Gaza, Golan und Teile des Westjordanlandes. Das klingt im ersten Moment harmlos, meint die Autorin, jedoch ist es vor allem bewusst undurchsichtig beschrieben. Zweitens wird die Forderung nach vollständiger Gleichberechtigung der arabisch-palästinensischen Bürger Israel. Tishby verweist mehrfach darauf, dass israelische Staatsbürger gleiche Rechte und Pflichten haben (fast, bezogen auf ultraorthodoxe Juden) und arabische Interessen vertretende Parteien in der Knesseth eine bedeutende Rolle spielen. 

Das dritte Ziel ist die Rückkehr aller palästinensischer Flüchtlinge. Hier wird es
interessant. Segev hat in Die ersten Israelis beschrieben, dass palästinensische Araber teilweise aus den arabischen Orten und Stadtteilen vertrieben und in Lagern zeitweise interniert wurden. An jüdisch-extremistische Kampfgruppen, die abseits der Regeln der Haganah und der späteren IDF (Verteidigungsstreitkräfte), wurde weiter oben bereits verweisen.

Gleichzeitig beschreibt Noa Tishby aber ein eher nicht bekanntes Problem, dass der "Vererbung" des Flüchtlingsstatus. Weil die Familien aus Furcht das zukünftige Israel verließen, kamen sie, insbesondere im Libanon in Flüchtlingscamps unter, in den sie teilweise seit Jahrzehnten ausharren – politisches Argument der Gegner Israels. Eine Art Integration in den arabischen Nachbarstaaten wurde nie versucht. Durch die Nachkommen haben nun über fünf Millionen den Flüchtlingsstatus, gezählt durch die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East). Palästinensische Flüchtlinge werden, so die Autorin, separat gezählt. (Für alle "anderen" Flüchtlinge auf der Welt ist wohl der Hohe Flüchtlingskommissar der UN - UNHCR - zuständig.)

Eine Rückkehr von 5 Millionen in dieses kleine Land mag man sich momentan gar nicht ausmalen, insbesondere bei der derzeitigen ziemlich rechts ausgerichteten Politik Benjamin Netanjahus. 

* * *

Dies sind Felder, welche Noa Tishby explizit benennt, Felder, welche eher weniger im Bewusstsein europäischer Zeitungsleser stehen, genau dafür hat sie ja ihren "Faktencheck" geschrieben. Das macht dieses Buch auch interessant, es weitet den Blick auf diesen Konflikt, der auch in den nächsten Jahren nicht so schnell ad acta gelegt werden kann. 

Nach Noa Tisby wird sich Israel dem Frieden und dem friedlichen Zusammenleben in dem Moment direkt stellen, indem die Hamas und radikale palästinensisch-arabische Kräfte das Ziel, Israel zu vernichten, fallen lassen. 

Die Art und Weise in dem die meist im Ausland lebende Autorin ihr Land, die Leute und die Ereignisse beschreibt, finde ich erfrischend und offen, ein lebendiges Sachbuch, welches sich hervorragend einordnen lässt in andere Sachbücher zum Thema.


Israel Thema auf Litterae - Artesque

"Noa Tishby wurde 1975 in Tel Aviv geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Ihre Familie hat Wurzeln im osteuropäischen Judentum. Nach dem Wehrdienst in Israel absolvierte sie ein Studium an der Tel Aviv National Museum of Arts. Sie spielte eine Hauptrolle in der in Israel sehr erfolgreichen Prime-Time-Serie Ramat Aviv Gimmel und übernahm Rollen in diversen TV-Shows und Theaterproduktionen, bevor sie nach Los Angeles zog. Hier arbeitet sie vor allem als Produzentin. Die Jerusalem Post rechnet Noa Tishby zu den 50 weltweit einflussreichsten Juden." (Verlag)

Ich danke Literaturtest für das Rezensionsexemplar.



© Der Bücherjunge


1 Kommentar:

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