Sonntag, 12. Februar 2023

Groeper, Kerstin: Brennnesseln schmecken nur im Frühling.

Ein Foto wie es auch von meinen Großeltern stammen könnte. In diesem Zusammenhang fallen auch mir Brennnesseln ein, wenn es um die Ernährungslage nach dem Krieg ein. Oma hat sie erwähnt und dass sie nur im Frühling schmecken, liegt bestimmt daran, dass sie dann noch frisch sind.

Es dauert, bis wir auf den Titel des Familienromans im Text stoßen. Es ist tatsächlich die Nachkriegszeit. Doch in diesem Buch schaut die Autorin weiter zurück. Bis in die Mitte der zwanziger Jahre.

Kerstin Groeper führt uns zum einen nach Leer, Ostfriesland, dort lebt Gredel, Tochter eines Lehrers. Aus Ostpreußen kommt Hellmuth, Sohn des Bürgermeisters von Wehlau. 

Während Gredel glücklich ist durch die Fürsprache eines Onkels eine Ausbildung zur Röntgenassistentin aufnehmen kann, muss Helmuth die geplante höhere Laufbahn als Jurist an den Nagel hängen, als sein Vater bei einem Unfall ums Leben kommt. Nun muss er sich um Mutter und Schwester kümmern, letztere hat eine Tochter, deren Herkunft auch vor 1933 schon nicht anerkannt wurde, ihr Vater war ein Jude. Ab 1933 sagt Anna-Marie zur Mutter Schwester und zur Großmutter Mutter.

Auch Gredel hat es schwer, denn ihre Tochter Rosemarie, die von einem SS-Arzt stammt, der die Verlobung und geplante Heirat auflöst, wird vom strengen Großvater zunächst nicht anerkannt.

In Berlin treffen Gredel und Hellmuth aufeinander, eine Heiratsanzeige führt sie zusammen, die Großeltern der Autorin.

* * *

Zwei Familien vor dem Krieg, im Krieg und im Nachkrieg. Für Gredel war die Hochzeit wirklich wichtig. Sie hat Rosemarie in einem Lebensbornheim im Harz geboren, sie ist dort auch in Pflege. Wenn sie bis zum dritten Lebensjahr die Tochter nicht mit „unter die Haube“ bringt, dann steht eine Adoption vor ihr.. Helmuth hat als Soldat den sogenannten „Polenfeldzug“ mitgemacht, arbeitet nun aber für eine staatliche Behörde.

Vom Krieg, den Kampfhandlungen, lesen wir weniger, ab und zu gibt es einen gefallenen Verwandten zu beklagen in beiden Familien. Die Zerstörungen durch die alliierten Bombenangriffe werden dafür heftiger und kommen näher. So werden auch die Müllers ausgebombt. Die weit verzweigte Familie kann sich aber helfen auch mit angebautem Gemüse, auch nach dem Krieg. 



Die Gedächtniskirche könnte als Wahrzeichen
dieser Geschichte gelten

Hier liegt ein verblüffend „unpolitisches“ Buch vor uns. Zwar werden die Kriegsbegeisterung Hellmuths und seiner Freunde zu Beginn und während des ersten Weltkrieges erwähnt, die Ablehnung des hitlerschen Nationalsozialismus durch Hellmuth, der in Polen erlebt hat, dass dies ein verbrecherischer Krieg werden wird, die Angst, dass Anna-Maries Herkunft auffliegen könnte und brennende Synagogen im Jahre 1939. Die Luftschutzwartin, Frau Sägebrecht, in dem Stadtteil, in dem die Familie wohnt, lässt Anne-Marie mit in den Luftschutzraum, auch die Lehrerin hält die Hand schützend über das Mädchen, gefährlich bleibt es doch. Dafür schützt Hellmuth den Jungen der Frau Sägebrecht während der letzten Monate und Wochen im Volksturm bei der Flak. 

Aber insgesamt bleibt es ein Familienroman, der die unterschiedlichen Lebenskonzepte der Urgroßeltern Kerstin Groepers erzählt und die Geschichte der Großeltern mütterlicherseits.

Lebensbornheim Harz 1937 - 1945
Dabei hätte Kerstin Groeper ein interessantes Thema durchaus ausbauen können, dass von Geburt und Pflege ihrer Tante Rosemarie. 

Da ihre Eltern, Gredel und der SS-Arzt Walter, eine entsprechend arische Abstammung nachweisen können, kann Gredel die Tochter in Wernigerode zur Welt bringen, dort wurde im Harz das zweite Lebensborn-Heim eingerichtet. Lebensborn. Der hart arbeitenden Gredel kommt eine Institution zu Gute, deren Ziele mit „Erbgesundheit“ und „Rassenhygiene“ überschrieben sind.  Bisweilen wird das NS-Institut als „Zuchtanstalt“ beschrieben, es sollt in diesem Verein die Geburtenrate arischer Kinder erhöht werden. Die Geburt unehelicher Kinder wurde in in dieser SS-eigenen Organisation geheimgehalten, die Mütter vor den Vorbehalten der Gesellschaft geschützt, die Vormundschaft gegenüber diesen Kindern übernommen. Kerstin Groeper schildert die Betreuung ihrer Großmutter und ihrer damals kleinen Tante als zuvorkommend und liebevoll. Die Adoption kann sie nach abwenden, als sie mit Rosemarie nach Berlin zieht und das Mädchen von Helmuth angenommen wird. Auch Hildegard wird dort geboren. *

Die geteilte Stadt, die Worte Ernst Reuters, „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt…“ während der sowjetischen Blockade, die Luftbrücke zur Versorgung werden natürlich thematisiert, der für achtundzwanzig Jahre teilende Bau der Berliner Mauer aber weniger. Die Familie, die auseinanderzuhalten dem Rezensenten ohne auf dem Umschlag nachzusehen manchmal schwerfiel, wohnte wohl nur im Westen der Stadt…

* * *

Die Urgroßmutter wird die Autorin der Familiengeschichte noch kennenlernen. Vieles wird Kerstin Groeper erst durch Recherchen bekannt. Die Uhr des ostpreußischen Urgroßvaters befindet sich aber noch in Familienbesitz und schlägt. Aus dem Material schreibt sie den Familienroman, kein Sachbuch oder “einfach eine “Biografie”. Die Dialoge sind der Füllstoff und so manches musste wahrscheinlich „eingefügt“ werden.



Die Uhr der Urgroßeltern findet sich heute bei der Urenkelin


Liest man Familiengeschichten aus der Zeit, dann sind diese oft viel festgelegter, betreffend des Handelns von Personen. Hier finden wir Mütter und Väter, deren Hauptanliegen das Durchkommen ihrer Familien ist. Sie werden dabei auch fest, unnahbar, streng. Die Schilderungen von Gredel und Hellmuth zeigen genau dies auf, Rosemarie und Hildegard werden sehr streng erzogen und doch lässt die Enkelin keinen Zweifel daran, dass ihre 2019 verstorbene Mutter liebevolle Eltern in einer sehr schweren Zeit hatte.

Es ist ein Familienroman. Kerstin hat ihn geschrieben um uns daran teilhaben zu lassen. Ich bedanke mich trotzdem für die Auswahl als Leser.



© Der Bücherjunge


* Das, was die Neue Zürcher Zeitung im September 2003 zum Thema schreibt, trifft auf Frauen, wie sie Kerstin Groeper hier beschreibt im Vergleich durchaus zu. Streitbares Thema, an das sich die Autorin damit wagte. Keineswegs wird damit ein typisch nationalsozialistisches Projekt, der Verein Lebensborn, zu einer humanistischen Organisation, in deren Heimen nicht nur „hocharische“ ausgesuchte Kinder geboren wurden, sondern auch Kinder wie in jeder Geburtsklinik, in die das Lebensbornheim in Wernigerode bei Gründung integriert worden sein soll. Es bleibt, dass Gredel das Glück, Rosemarie zu behalten und pflegen zu lassen, letztlich der SS-Angehörigkeit des Vaters zu verdanken hat, der sich vor dieser Verantwortung nicht drückte und zeitweise auch Alimente zahlte.







1 Kommentar:

  1. Ein ungewöhnliches und sehr persönliches Thema für die Autorin, die sich ansonsten doch eher einem anderen Genre verpflichtet fühlt.

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