Freitag, 3. Juni 2022

Ogawa, Yoko: Augenblicke in Bernstein

Eine Frau reist mit ihren drei Kindern in einen abgelegenen Kurort, um sich dort in einem alten Haus niederzulassen, das einst von ihrem Mann bewohnt wurde. Den Kindern wird aufgetragen, alles zu vergessen, was in ihrem bisherigen Leben eine Rolle gespielt, damit sie sich keiner Gefahr aussetzen. Mithilfe eines Wissenschaftslexikons, das aufs Geratewohl aufgeschlagen wird, dürfen sie sich sogar neue Namen geben. Die Mutter untersagt ihnen, das Anwesen zu verlassen, und doch sind sie überglücklich mit ihrem neuen Leben. Umgeben von hohen Mauern, inmitten eines verwunschenen Gartens, erfinden sich die Kinder ihre eigene Welt. Riesige Bäume, ein Bachlauf, viele Tiere, die von der Stille angezogen werden – alles um sie herum sorgt für Verwunderung und dient als Quell der Fantasie. Eines Tages jedoch betritt ein Hausierer den Garten, der fremde, wundersame Dinge aus seinen Taschen hervorzaubert, die für die Menschen dort draußen scheinbar von Belang sind. (Klappentext) 





  • Herausgeber ‏ : ‎ Liebeskind; Deutsche Erstausgabe Edition (8. April 2019)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Übersetzung  : Sabine Mangold 
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 336 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3954381001
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3954381005
  • Originaltitel ‏ : ‎ Kohaku no matataki





Ich bin sehr dankbar, dass der Liebeskind Verlag mir schon vor geraumer Zeit ein Rezensionsexemplar dieses Titels zur Verfügung gestellt und dann geduldig gewartet hat, bis ich mich dem Roman endlich widmete. Ich habe gesehen, dass im Herbst ein weiteres Buch von Yoko Ogawa erscheinen soll ("Der Duft von Eis"), und da fiel mir ein, dass ein SuB von Rezensionsexemplaren nicht unbedingt die beste aller Ideen ist. Nun aber ist der Roman gelesen, und nach "Das Geheimnis der Eulerschen Formel", "Schwimmen mit Elefanten" und "Der Herr der kleinen Vögel" ist dies nun der vierte Titel der japanischen Autorin, der hier im Blog vorgestellt wird:
























KINDHEIT UND TRAUMWELT...


Vor nahezu sieben Jahren las ich zuletzt einen Roman von Yoko Ogawa - vollkommen unverständlich, weiß ich die Erzählungen der japanischen Autorin doch sehr zu schätzen. Und gleich nach den ersten Zeilen dieses Romans wusste ich wieder, weshalb ich so gerne in die Bücher Ogawas eintauche. Der eigentümliche Zauber des Schreibstils nahm mich erneut sogleich gefangen.

Eine wieder einmal leise Erzählung ist es, die Yoko Ogawa hier präsentiert. Im Mittelpunkt stehen drei Kinder, deren Mutter nach dem Tod ihrer jüngsten Tochter darauf bedacht ist, sie vor allem Bösen zu beschützen. Sie flüchtet mit ihnen in eine alte Villa, in der einst der Vater der Kinder wohnte. Alles, was vorher war, sollen die Kinder zu ihrem Schutz vergessen, sogar ihre Namen. Die Mutter trägt ihnen auf, sich aus einer Enzyklopädie einen neuen Namen zu wählen - die älteste Tochter wird so zu Opal, die beiden Söhne zu Achat und Bernstein - stets leise zu sein und fortan das Grundstück nicht mehr zu verlassen. 

Kinder sind Kinder und hinterfragen nicht, was ihre Eltern anordnen. Und so finden sich auch Opal, Achat und Bernstein, aus dessen Perspektive das Geschehen um die drei Kinder geschildert wird, in ihre neue Realität ein. Sie begnügen sich mit dem, was das alte Haus und der große, verwunschene Garten an Möglickeiten hergibt, und über Spiel, Musik sowie ein großes Maß an Fantasie kreieren sie sich eine gemeinsame Welt. Die drei lernen aus unzähligen Enzyklopädie-Bänden, die sich in dem ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters finden und die er seinerzeit herausgegeben hat. So beschäftigt sich jedes Kind mit Themen, die es gerade interessieren.

Bernstein entdeckt sein Talent zum Zeichnen und beginnt, an den Rändern der Seiten der Enzyklopädie-Bände fortlaufende Zeichnungen zu hinterlassen, die, vom Daumen in der richtigen Geschwindigkeit abgeblättert, vor den Augen des Betrachters aus den einzelnen Bildern eine fortlaufende Bildfolge entstehen lassen. So kehrt die verstorbene kleine Schwester in den Kreis der Familie zurück, versteckt und sicher zwischen den Seiten der Enzyklopädie, und entzückt Mutter und Geschwister mit ihren kleinen Geschichten.

 

"Als er verstand, dass alles in seinen Armen ruhte, versenkte er sich in die Enzyklopädie. Dort herrschte eine tiefe Stille, die durch nichts und niemanden gestört werden konnte."

 

Die Erzählung wechselt zwischen dem Geschehen in der Vergangenheit, in der die drei Kinder jahrelang in ihrer eigenen Welt lebten, als die Macht der Fantasie alles bedeutete, und den Ereignissen in der Gegenwart, in der Bernstein sich in einer Seniorenresidenz befindet. Andeutungen verraten dem/der Leser:in schon frühzeitig, dass die befremdlich-schöne Traumwelt der Kinder eines Tages ein Ende findet, doch erst am Ende des Romans erfährt man, was genau geschah. Diese Verschachtelung von Gegenwart und Vergangenheit ist Ogawa gut gelungen, und Bernsteins Sehnsucht nach Stille, den Blick auf das Vergangene gerichtet, und sein Wunsch, Vergangenes am Rande eines Buches zeichnerisch zurück ins Leben zu holen, sind auch im Alter ungebrochen.

Ogawa beherrscht die Kunst, auf eine unaufgeregt-poetische Art einsame Leben zu präsentieren, die leise am Rande der Gesellschaft existieren und letztlich dennoch erfüllt scheinen. Bernstein ist also niemand, der einem leid tun muss, sondern letztlich jemand, den zu kennen man sich wünschen würde.

Abgesehen von einigen etwas langatmig anmutenden Passagen wieder einmal ein großartiger Roman, der mich in meiner Absicht bestärkt, noch weitere Werke von ihr lesen zu wollen. Hoffentlich nicht erst wieder in sieben Jahren...


© Parden





















Yoko Ogawa gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Akutagawa-Preis und dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Mit der englischsprachigen Ausgabe des Romans »Insel der verlorenen Erinnerung« wurde Yoko Ogawa für den National Book Award und den International Booker Prize nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in der Provinz Hyogo. (Quelle: Liebeskind Verlag)




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