Dienstag, 28. Juni 2022

TOLSTOI, Leo: Krieg und Frieden

Am 16. Juni 2013, gerade mal einem Monat nach Bloggründung, veröffentlichte der TinSoldier hier seine Rezension zu KRIEG UND FRIEDEN von Lew Tolstoi. 
Auf KRIEG UND FRIEDEN stieß ich mehrfach in Folge der Lektüre von Bulgakows DIE WEISSE GARDE, ein Roman, der den Beginn des Bürgerkriegs in Kiew behandelt. Beides echt russische Bücher - Antikriegsbücher, den trotz des Patriotismus bei Tolstoi hat er doch keinen Zweifel daran gelassen, dass Krieg eine Menschheitsgeißel ist. Grund genug, in den "Annalen" des Blogs zu kramen. 

TinSoldiers Rezension:

Was schreibt man in einer Rezension über diesen Klassiker? Dass es ein wahrhaft monumentales Werk ist? Ist es nicht aber von vornherein anmaßend für einen Laien, über ein solches Werk urteilen zu wollen? Ich meine: Nein! Denn   w e r    s o n s t  sollte über ein literarisches Werk urteilen, wenn nicht der Leser? 

Dies Urteil a l l e i n intellektuellen Literaturkritikern und promovierten Literaturwissenschaftlern zu überlassen, wäre doch so, als wollte ich im Restaurant den Kellner bitte, zu entscheiden, ob es m i r geschmeckt hat.


Krieg und Frieden:
Das Buch ist Geschichtswerk und Gesellschaftsroman, ja, monumentales Gemälde der russischen Seele und des zaristischen Russland im 19. Jahrhundert zugleich. Von der ersten Zeile an werden wir hineingezogen in die Salons und Gesellschaften der russischen Oberschicht der napoleonischen Epoche, erleben glänzende Bälle und Abendgesellschaften mit Klatsch, Intrige, Eitelkeiten und all den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen jener Zeit, aber auch den kleinen Belanglosigkeiten des täglichen Lebens.
Von der ersten Zeile an ist gewiss: Tolstoi ist ein begnadeter Erzähler, dem es mühelos gelingt, uns hineinzuziehen in seine Geschichte, ja, uns förmlich darin versinken zu lassen und der uns nach und nach den Zeitgeist und das Lebensgefühl einer ganzen, lange zurückliegenden Epoche sowie eben jener Gesellschaft im zaristischen Russland am Beginn des 19. Jahrhunderts, vermittelt. Selten las ich ein Buch, das mich so gefesselt hat und das zugleich so lehrreich, sprachlich so schön, atmosphärisch so dicht gewoben, kurzum: so unglaublich authentisch war. Der Leser spürt allerorten den Hauch der Historie und glaubt an manchen Stellen, selbst den Schlachtenlärm zu hören, ja den beißenden Geruch des Pulverdampfes zu riechen, welcher allerorten in der Luft über den Schlachtfeldern liegt und es dem Grafen Bezuchow erscheinen lässt, als versinke das sonnenbeschienene Tal zu seinen Füßen, aus dem ab und an in der Sonne das blanke Metall der Säbel und Musketenläufe herauf blitzt, am helllichten, sonnenbeschienenen Tag im Nebel.

So ziehen im Laufe der Geschichte hunderte von Personen und Einzelereignissen sowie exakte Schilderungen geschichtlich verbürgter Ereignisse und kriegerischer Auseinandersetzungen vor unserem Auge vorbei und fügen sich nach und nach zu einem wunderbar farbigen, unendlich facettenreichen und psychologisch stimmigen Bild einer ganzen Epoche, der russischen Gesellschaft jener Zeit, ja, der russischen Seele. 
Was macht es da aus, das wir natürlich die Geschichte aus russischer Sicht erleben, uns also darüber im Klaren sein müssen, hier keine neutrale Betrachtung der Historie zu erleben. Auch wohl mag es auffallen, dass in einigen wenigen Sätzen und Bemerkungen Ressentiments und Geringschätzung Tolstois gegen Deutsche sich offenbaren. Dies ist umso erstaunlicher, als eine der berühmtesten und mächtigsten Monarchinnen der russischen Geschichte, Katharina die Große nämlich, eine geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst, mithin eine Deutsche war. Den Wert und die Schönheit des Werkes schmälert dies aber nicht.
Eingebettet in den Hintergrund der napoleonischen Kriege, deren Höhepunkt der russische Feldzug mit der Eroberung Moskaus durch Napoleons Truppen im Jahre 1812 war, breitet Tolstoi viele Handlungsstränge vor uns aus, in denen er uns die Ereignisse aus der Sicht zahlreicher Personen unterschiedlichen Standes erleben lässt. Hauptfiguren des Romans sind Pierre Bezuchow, Fürst Andreij Bolkonskij und Natascha Rostowa, deren Leben auf schicksalhafte Weise mit dem der beiden anderen Protagonisten verbunden ist.

Doch Vorsicht. Schon mancher hat sich den Magen verdorben, weil er zur unrechten Zeit zu viel zu sich nahm. Dies ist keine Buch für den Strandurlaub oder für morgens in der U-Bahn. Das wäre so, als würde man einen schweren roten Barolo zu einem federleichten Crevetten-Cocktail genießen. Es passt nicht zusammen.
Dies ist schließlich kein Burger für den kleinen Lesehunger zwischendurch, sondern ein opulentes, mehrgängiges Lesemenue mit über 1600 Seiten, das uns von einem Sternekoch bereitet wurde und entsprechend anspruchsvoll ist. Man liest es nicht mal schnell so zwischendurch, sondern genießt es in Andacht und Ruhe, vielleicht bei Kerzenschein und in Begleitung eines Glases guten Weins. Und in wohldosierten Portionen, kapitelweise, vielleicht oder sogar ganz sicher über mehrere Wochen hinweg. Dann mundet es ausgezeichnet. Wohl bekomm´s!

Fazit: Nicht nur vom Umfang her ein starkes Buch!

© TinSoldier

* * *


Nein, den Magen habe ich mir nicht verbogen bei der Lektüre des dicken Schinkens aus dem 19. Jahrhundert.  

Jedoch dauerte es mehrere Filmstunden, ehe ich mich ans Lesen machte. Zuerst war da ein amerikanischer Film. Tolle Besetzung: Henry Fonda als Pierre Besuchow, obwohl die Figur eigentlich nicht der Romanbeschreibung entspricht, viel zu schön. Dafür passte Audrey Hepburn um so mehr, als Natascha Rostowa.  Drei Stunden und achtundzwanzig Minuten lang ist der Film.

Jedoch reizte mich seinerzeit die russisch/sowjetische Antwort auf den us-amerikanischen Monumentalfilm,  man verpflichtete einen der Großen des sowjetischen Films, S. Bondartschuk und zeigte dem Publikum in einer "unendlichen" Fassung Birkenwälder und Schlittenfahrt zu Balalaika-Musik. Es waren aber die großen Schlachtszenen, die genauso beeindruckten. Jedenfalls brachte Bondartschuk, der auch den Besuchow spielte, auch eine junge Schauspielerin in Rennen, Ljudmilla Saweljewa.  

"Akribische Detailfreudigkeit, die malerische Behandlung und farbige Delikatesse eines sorgfältigen abgestuften Kolorits, die ruhige Schönheit großflächiger Landschaftsaufnahmen, die exzellente Kameraführung, die zuweilen mit einer optischen Kühnheit operiert, wie man sie bisher noch nie in Filmen dieses Genres gesehen hatte" - so schrieb DIE WELT 1968. (Booklet)

Sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten, doppelt so lang wie die amerikanische Vorlage.

Jack Lemmon, amerikanischer Schauspieler, erklärte: "Der Film nahm mich gefangen durch Originaltreue, Poesie und Humanismus...". (Booklet)


Humanismus! - Das sollten die Russen derzeit noch einmal durchdenken. Kutosov hieß der General, der die Große Armee des Korsen bei Borodino schlug. Einen Kutusov-Orden verlieh  die Sowjetunion und verleiht die Russische Föderationn. In Sinne Tolstois, der einen hohen Anteil an der Bekanntheit des russischen Generals hat, dürfte eine Verleihung, womöglich noch im Zusammmhang mit der "operativen Spezialoperation" in der Ukraine seit 24. Februar 2022, nicht sein. 


Doch es ist noch nicht genug mit der Filmerei: Im Jahr 2008 stieß eine internationale Filmcrew nach und brachte eine weitere sechsstündige und vierteilige Version ins Fernsehen. Eine deutsche Produktion in der Regie von Robert Dornhelm. Diese moderne Version erscheint etwas "spritziger", und dadurch weniger lang, was relativ ist.

Jedoch las ich den 1645 Seiten endlich nach dem stundenlangen Genuss der sowjetischen Version. Dieser zweite Versuch fruchtete endlich und ich fand Zugang zu schon mal einem der großen Russen und ihrer Literatur. Zusätzlich hatte ich ja nun genügend illustrierende Bilder vor Augen.


  • DNB / Artemis & Winkler / München 1956 / 5. Auflage 2006 / ISBN: 3-538-06891-7
  • Krieg und Frieden - USA: Amazon / Wikipedia
  • Krieg und Frieden - UdSSR: Amazon / Wikipedia
  • Krieg und Frieden - Deutschland: Amazon  / Wikipedia
  • Leo Tolstoi - Autorenseite
  • Leo Tolstoi - Wikipedia / Roman
  • Rezension zuerst veröffentlicht auf buchgesichter.de und am 16.06.2013 auf Litterae Artesque





© TinSoldier und Bücherjunge


5 Kommentare:

  1. Ein wenig Fremdwerbung aber interessant:

    - http://loomings-jay.blogspot.de/2013/04/kutusow.html
    - http://loomings-jay.blogspot.de/2013/04/blog-post.html

    AntwortenLöschen
  2. Gute Rezension, und das nicht nur, weil Du meine damalige Rezension gewürdigt hast!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Alte Schätze muss man gelegentlich nach vorn holen. Der Bücherjunge

      Löschen
  3. Wunderbare Rezension(en)! Ja, dieses epische Werk ist sicher wirklich nichts für nebenher und zwischendurch… Eher ein Buch für lange Winterabende!

    AntwortenLöschen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.