Samstag, 18. Juni 2022

De Vigan, Delphine: No & ich

Lou ist dreizehn, hochbegabt und eine Einzelgängerin. Am liebsten beobachtet sie die Menschen um sich herum und stellt dabei gewagte Theorien auf, um die Welt zu verstehen. Bis sie eines Tages auf die achtzehnjährige No trifft, die mitten in Paris auf der Straße lebt. No mit ihren dreckigen Klamotten und ihrem müden Gesicht, No, die jeden Tag um ein Essen und einen Schlafplatz kämpfen muss. No, deren Einsamkeit die Welt in Frage stellt. Und so stürzt sich Lou in ihr neues Projekt: Sie will No retten – und sich und der Welt beweisen, dass sich alles ändern lässt... (Klappentext)




Das Bild zeigt das Cover der Ausgabe, die in meinem Besitz ist (Droemer Verlag). Die Neuauflage aus dem Knaur Verlag hat ein ähnliches Cover, jedoch einen leicht veränderten Klappentext sowie natürlich eine andere ISBN-Nummer, eine andere Seitenzahl usw. Die nachfolgenden Angaben beziehen sich auf die Neuauflage, da ein Exemplar aus dem Droemer Verlag allenfalls noch antiquarisch zu erhalten ist.





  • Herausgeber ‏ : ‎ Knaur HC; 1. Edition (21. August 2017)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Übersetzung: Doris Heinemann 
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 320 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3426654385
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3426654385
  • Originaltitel ‏ : ‎ No et Moi





Dies ist wieder mal eines der Bücher, die ich unbedingt haben wollte, weil ich so viele lobende Worte darüber gelesen hatte. Dann aber landete es im Regal neben anderen Romanen der französischen Autorin, die ich so sehr schätze - und verstaubte. Himmel noch eins! Gelobt seien die Challenges, die mich dann doch ab und an dazu bewegen, solche SuB-Leichen eines Tages aus dem Regal zu ziehen, den Staub wegzupusten, das Buch mit einem leisen Seufzen aufzuschlagen - und darin zu versinken. Ja, ein Jahres-Highlight habe ich hiermit gelesen, einen Roman, dem das Dasein als SuB-Leiche definitiv nicht gerecht wird! Auch in diesem frühen Werk brilliert Delphine de Vigan bereits mit ihrem Können. Mehr dazu könnt ihr hier lesen:
 

 




















DIE DINGE SIND, WIE SIE SIND...


Die Dinge sind, wie sie sind, und gegen viele kann man nichts tun. Wahrscheinlich ist es das, was man akzeptieren muss, um erwachsen zu werden. (S. 81)


Eingentlich könnte Lou Bertignac ein ganz gewöhnliches Mädchen sein, wenn sie mit ihren dreizen Jahren keinen IQ von 160 und nicht bereits zwei Klassen übersprungen hätte. Es ist aber nun einmal so: Sie ist viel zu klein und schmächtig für ihr Alter, doch ihr Hirn rattert ununterbrochen. Sie ist eine Außenseiterin, obwohl sie so gerne dazugehören und ein unbeschwertes Leben führen möchte. Doch seit dem Tod ihrer kleinen Schwester hat sich ihre Mutter von der Welt abgeschottet, auch von ihrer älteren Tochter. Lou ist einsam.


Mein ganzes Leben lang habe ich mich außerhalb gefühlt, wo auch immer, außerhalb der Bilds, außerhalb des Gesprächs, neben der Situation, (...) als wäre ich außerhalb des Rahmens oder auf der anderen Seite einer riesigen unsichtbaren Glaswand. (S. 17)


No ist achtzehn Jahre alt. Nach mehreren Pflegefamilien und Internaten landete sie irgendwann auf der Straße. Seitdem zieht sie von morgens bis abends durch Paris und sucht jeden zweiten Tag nach einem neuen Ort, um zu schlafen. Sie muss tagtäglich kämpfen, um zu essen, um nicht ausgeraubt zu werden, um zu überleben. Niemand will sie.


Ich sah wieder ihre Blässe vor mir, ihre durch die Magerkeit vergrößerten Augen (...) Sie hatte so jung ausgesehen. Und zugleich hatte ich den Eindruck gehabt, sie kenne das Leben wirklich, oder vielmehr, sie kenne etwas vom Leben, das einem Angst macht. (S. 18)


Ursprünglich sollte Lou in Sozialkunde ein Refarat über die Obdachlosen halten, aber was sie entdeckt, als sie No befragen will, ist ein Ort, an dem man keine Fragen mehr stellt. Doch das kann Lou nicht akzeptieren. Sie will, dass die Dinge sich ändern, dass jeder seinen Platz findet. Und was am Anfang nur eine lästige Aufgabe war, entwickelt sich zu einer außergewöhlnichen Freundschaft, die versucht, der harten Realität ein Bein zu stellen...

 

...ich suche nach etwas, womit ich sie trösten könnte, ich finde nicht das rechte Wort (...) und sie senkt den Blick und sagt nichts. Und in unseresm Schweigen lastet alle Ohnmacht der Welt, unser Schweigen ist wie ein Rückkehr zum Ursprung der Dinge, zu ihrer Wahrheit. (S. 60)


Delphine de Vigan schildert die Ereignisse aus der Ich-Perspektive der 13jährigen Lou, die mit ihrer Hochbegabung und emotionalen Sensibilität die Welt hinterfragt. Im Rahmen der Recherche für ihr Referat stößt Lou auf die 18jährige No, die obdachlos durch die Straßen von Paris streift. Lou möchte nicht nur wissen, wie No in diese Lage geraten ist, sondern auch wie es sein kann, dass alle Welt akzeptiert und ignoriert, dass es so viele Obdachlose gibt, Randfiguren der Gesellschaft, die niemand mehr zur Kenntnis nimmt. Lou ist nicht bereit, ebenfalls die Augen zu schließen und die Tatsachen als gegeben hinzunehmen wie alle anderen. Sie will etwas tun. Und stößt damit viele Entwicklungen an, deren Richtung jedoch nicht immer wie gewünscht verläuft. 

Der französischen Autorin ist mit "No & ich" ein wahrlich warmherziger Roman gelungen, den man wegen seiner Erzählperspektive durchaus als Jugendbuch einstufen kann, wenn auch aufgrund des gehobenen Schreibstils als ein recht anspruchsvolles. Viele Menschen in Lous erzähltem Umfeld haben ihr eigenes Päckchen zu tragen, wodurch der Roman thematisch sehr verdichtet erscheint (neben der Obdachlosigkeit kommen auch Punkte wie Depression, Kindsverlust, Vernachlässigung, Pubertät, erste Liebe, Hochbegabung, Vergewaltigung, Prostitution, Alkoholismus, Gesellschaftskritik zur Sprache). Aber all diese Themen sind lebenswirklich und nachvollziehbar geschildert und nehmen nie mehr Platz ein, als ihnen zusteht. Der Roman geht auf vielen Ebenen in die Tiefe und ist zu keiner Zeit oberflächlich, die Erzählung beeindruckt und bringt einen dazu, eigene Sichtweisen zu überdenken.

Alles in allem ist dies eine außergewöhnliche Coming-of-Age Geschiche, ein Roman über eine ungewöhnliche Freundschaft, ein nachdenklich stimmendes Sozialprojekt - berührend durch Sprache und Inhalt... Wirkt nach und ist unbedingt empfehlenswert!


© Parden
























DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihr Roman ›Dankbarkeiten‹ (2019). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris. (Quelle: DuMont Buchverlag)
 

2 Kommentare:

  1. Ein wichtiges Thema. Denn gehen wir nicht alle immer wieder an den Menschen vorbei, die außerhalb stehen und doch inmitten von allen sitzen?
    Zumindest war dies keine SUB-Leiche, aber im SUB-Koma mag es gelegen haben.

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    1. Eine reanimierte SuB-Leiche vielleicht... ;) Du hast Recht - das Thema geht jeden Einzelnen von uns an!

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