Freitag, 17. Juni 2022

Schlink, Bernhard: Die Enkelin

Der hier vorgestellte Roman gilt als Bestseller des Jahres 2021. Die bekannte Aufmachung der Bücher des Diogenes-Verlages lies mich letztens darauf aufmerksam werden. Natürlich wurde ich bereits im November darauf aufmerksam, als Anne Parden ihre Rezension zum Buch veröffentlichte, damals kommentierte ich mit „Interessant, aber keine Zeit“. Nun habe ich sie mir genommen und verrate unüblicher Weise zu Beginn der Buchbesprechung, dass ich nur zwei Tage für die Lektüre brauchte. Dies ist mir schon länger nicht passiert.

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Ein ruhiger Buchhändler im Großvateralter namens Kaspar kommt nach einem langen Tag nach Hause. Er erwartet seit längerem keinen schönen Abend, dieser wird traurig.

Seiner Frau Birgit hat er einst, wenige Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer über Prag und Wien nach Westberlin verholfen. Was Kaspar nicht weiß, Birgit hatte vor ihrer Flucht eine Tochter entbunden, der Vater ist ein FDJ- und später SED-Funktionär.

Doch nun ist Birgit nicht mehr am Leben, Kaspar findet die alkoholabhängige und depressive Liebe seines Lebens tot in der Badewanne. Unfall? Suizid? Beides könnte möglich sein, ist aber letztlich nicht wichtig.

Was Kaspar nach Wochen findet ist eine Mappe mit Recherchen zur Kinderheimen und Jugendwerkhöfen in der DDR.  Und dann findet er Birgits „Vermächtnis“ unter dem Titel „Ein strenger Gott“...

Sie erzählt von sich, wie sie aufwuchs in der DDR, als Pionier und FDJ-lerin in deren Sinne erzogen wurde und dachte, wie sie Kaspar während des Deutschlandtreffens 1964 kennen lernte und in den Westen kam, von der Tochter, und ihrem eigenen Wunsch nichts wissen zu wollen von diesem Kind, wie sie ihre Freundin bat, das Kind irgendwo abzugeben, wie sie sich mühte, aus der Geschichte einen Roman zu machen und wie sie Kaspar sah, nun, Jahrzehnte später...

Der macht sich auf die Suche nach der Freundin, die Birgit noch ausfindig gemacht hat, erfährt von Svenja, seiner Stieftochter, aufgewachsen in der Familie ihres Vaters, dem Funktionär.

Nun aber lebt sie in einem „völkischen“ Dorf mit ihrem Mann Björn und der Tochter Sigrun, der Enkelin...

Kaspar besucht diese Familie, und hier beginnt der letzte Teil, der von Großvater und Enkelin...

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Das Buch fokussiert zwei immer wieder diskutierte Aspekte neuerer deutscher Geschichte. Da ist einerseits das Thema DDR & Flucht, in diesem Fall wenige Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer 1964. Schlink erzählt aber hier durch seine Figur Birgit nicht die Geschichte von Repressionen, Unfreiheit, Staatssicherheit, sondern eher, wie die bestimmte Bedingungen der Gesellschaft deren Bürgerinnen und Bürger zermürbten, die doch einst die Idee des Sozialismus auf deutschem Boden durchaus befürworteten.

Birgit in ihrem Text Der Strenge Gott:

„Die DDR machte mich traurig. Die Begeisterung für die neue Zeit, die Hoffnung auf ein neues Land, und einen neuen Menschen, die Einsatz und Opferbereitschaft der frühen Jahre – auch wenn nichts vom Anfang geblieben ist, war es doch ein Anfang. Auch wenn nichts von den Versuchen, das Land trotz des Systems und gegen das System voranzubringen, geblieben ist, nichts von dem Beharren, dass Sozialismus und Frieden zusammengehören und dass beidem zusammen die Zukunft gehört – es war einmal, und es war wirklich und eine gute Wirklichkeit gegen die schlechte des wirklichen Sozialismus. Ihr Verschwinden macht mich traurig, auch wenn ich weiß, dass die gute Wirklichkeit nur gegen die schlechte bestehen konnte und ohne sie verschwinden musste.“ (Seite 59)

Diese Birgit schreibt dies im Rückblick auf lang zurückliegende Zeit, wobei die Hoffnung auf ein neues Land für sie (und andere) eher verloren gingen, als der Gedanke um die Zusammengehörigkeit von Frieden und Sozialismus. Es gab nicht wenige Menschen, die der Idee und der Hoffnung anhingen bis zuletzt.

Nicht Kaspar erzählt so viel von der Zeit, da er als Student in Westberlin durch den Ostteil der Stadt zog, und diese Birgit fand. Und so lesen wir die Namen Kant und Neutsch und Jakob und Havemann und dann fällt der Name Biermann, schon in den Sechzigern ausgegrenzt.

Mit seinem Roman zeigt Schlink dann auch gewisse Parallelen auf, wenn Birgit schreibt:

„Mir passierte im Kleinen, was ich den Ostdeutschen nach der Wende im Großen passieren sah. Zuerst wurden sie beglückt willkommen geheißen. Sie wurden auch interessiert gefragt, wie sie im Osten gelebt haben. Aber sie wurden gefragt, wie man jemanden nach einer Reise fragt, die er gemacht hat. Als sich zeigte, dass sie nicht nur eine Reise gemacht hatten und jetzt wieder da waren, sondern aus einer Welt kamen, einer Welt, in der ihnen manches nicht gepasst hatte, die aber ihre war, die sie aufgebaut und erhalten hatten, der sie verbunden waren und blieben, war´s mit dem Interesse vorbei.“ (Seite 113)

Schlink lässt sie noch sagen, dass Ostdeutsche unter Westdeutschen am besten alles Ostdeutsche hinter sich lassen sollten. Ist das nun die Meinung des Autors, der hier keine Lanze für die DDR, aber für die Menschen bricht, oder gehört sie allein seiner Figur Birgit?

Es scheint, als wäre die Zerrissenheit und die Unstetigkeit, die vielen Dinge, die Birgit anfängt genau hier angelegt: Sie kann nicht wie ihr Mann die gemeinsame Buchhandlung als Lebenszweck allein ansehen. Hinzu kommt das Trauma der zurück gelassenen Tochter – die Suche nach ihr überlässt sie nun Kaspar.

Damit beginnt der zweite Aspekt, der des gegenwärtigen Rechtextremismus, der uns inzwischen solche Wörter wie „völkisch“, und „nationale Siedler“ wieder regelmäßig lesen lässt. Wenn Kinder in solchen Siedlungen erzogen werden, als wären die lange nach dem Krieg geborenen Eltern als „Pimpf“ und „Jungmädel“ in Uniform auf die Welt gekommen. Gelebter Nationalsozialismus. Liest man die Geschichte von Kaspar und Sigrun, die den Stiefgroßvater mit all den rechten Vorstellungen konfrontiert, mit Rudolf Heß als Helden, der „Wahrheit“ über das Tagebuch der Anne Frank, die eine Ravensbücker Aufseherin verehrt, die am Ende standhaft unterm Galgen stand, damit, dass die Massenvernichtung technisch gar nicht möglich gewesen wäre – es ist unerträglich, doch dieser Kaspar will und kann es ertragen. Helfen wird die Musik, denn das Mädchen hat ein besonderes Talent dafür.

Es läuft einem kalt den Rücken runter. „Glücklicherweise“ siedelt Schlink das völkische Dorf, dessen jugendliche Bewohnerin den nicht mehr genutzten Dönerstand von Nichtdeutschen, also deren Vertreibung, als Sieg ansieht, zwar in Mecklenburg an, Björn,  der Vater Sigruns allerdings kommt hier aus Niedersachsen, während Svenja, die Stieftochter, in den Wendezeiten zu den rechtsextremen Gruppierungen gefunden hat.

Ein klassisches Happyend gibt es nicht. Es wäre auch nicht möglich gewesen, denke ich. Aber Hoffnung dürften am Ende Kaspar UND Sigrun haben – jeweils an einem anderen Ende der Welt...

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Foto: Gaby Gerster /
© Diogenes Verlag
Interessant ist, dass Bernhard Schlink hier ein wenig Autobiografisches einfließen lässt, denn die Begebenheiten während des Deutschlandtreffens 1964, die Diskussionen unter den Studenten und Studentinnen  aus Ost und West hat er selber miterlebt.

Er besuchte auch eine solche „völkische Siedlung“; daraus entsteht dann auch das Bild von Sigruns Eltern, von „denen“ er in einem Interview sagt: 

„Was ich über die Völkischen gefunden habe, fand ich besonders interessant. Sie wollen in und mit und aus der Natur leben, sie kleiden sich altertümlich, sie vermischen Grünes mit Blut und Boden und Rassismus. Ich bin hingefahren und habe mich umgesehen. Über einen gelegentlichen kleinen Wortwechsel ging es nicht hinaus. Trotzdem war es mir wichtig. Ein Lehrer erzählte mir, dass die Eltern der völkischen Kinder immer bereit sind, wenn es an der Schule etwas zu machen, zu helfen, zu backen gibt. Sie zeigen Engagement für die Gemeinschaft, anders als die Schläger der Kameradschaften in Thüringen.“ *

In der Süddeutschen Zeitung allerdings kritisiert Christian Meyer den Autoren, den er in Kaspar wiederzuerkennen glaubt in dessen „maßlosen Toleranz“ die dazu führt, dass Kaspar auf einem Fest in dem Dorf wo Sigrun lebt die alten Volkslieder mitsingt, die Naziathmosphäre dabei ignorierend(?).

„Kaspar weiß um seine größte Schwäche, er kämpft bewusst dagegen an. Er wäre gern ein mutigerer Mann. Doch letztlich kann er nicht aus seiner Haut. So wie der Romanautor Bernhard Schlink, Sohn eines protestantischen Theologen, der ganz fest daran glaubt, dass sich Menschen bessern können, wenn sie nur die Gelegenheit bekommen - mit Glaube, Liebe, Hoffnung.“ **

„Maßlose Toleranz“ erscheint mir übertrieben, zumal man auch mit Leuten mit extremen Ansichten versuchen muss zu reden. Wir können nun mal nicht mit Polizeigewalt das Dorf räumen oder gar anzünden.  

Zu kritisieren wäre hier, das Kaspar dies auf seine Enkelin beschränkt. Hierbei aber gleichermaßen auf den Autor abzustellen, trifft es nicht, denn der hat meines Erachtens mit diesem Widerspruch in Kaspar, genau den Widerspruch und Notwendigkeit der Auseinandersetzung deutlich gemacht.

Der große Bogen, den Bernhard Schlink hier zog, ist ein gutes Angebot zur Auseinandersetzung mit diesem unseren Land.

© Der Bücherjunge

* chrismon - Interview mit  B. Schlink: https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2021/52178/bernhard-schlink-ueber-ost-und-west-und-voelkisches-denken (17.06.22; 19:15 Uhr)

** Süddeutsche Zeitung - Christian Mayer vom 11.11.2021:  https://www.sueddeutsche.de/kultur/bernhard-schlink-die-enkelin-fdj-reichsbuerger-toleranz-1.5461821

1 Kommentar:

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