Sonntag, 26. Juni 2022

Brett, Lily: Chuzpe (Hörbuch)

Ruth kann nicht begreifen, daß ihr Vater Edek, vor wenigen Wochen erst von Melbourne zu ihr nach New York gezogen, weit davon entfernt ist, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Und dass Lebensabend überhaupt der falsche Begriff ist für den munteren Siebenundachtzigjährigen, der sich erst in Ruths Korrespondenzbüro nützlich zu machen versucht und wenig später ein Verhältnis beginnt mit der (viel zu jungen, wie Ruth findet) Polin Zofia (69). Als Edek zusammen mit Zofia und deren Freundin Valentina auch noch ein Restaurant an der Lower Eastside eröffnen will, das auf polnische Fleischbällchen spezialisiert ist, bangt Ruth gleichermaßen ums Erbe und um ihre Nerven. (Klappentext) 





  • Herausgeber ‎ SAGA Egmont, 02. Oktober 2020
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Übersetzung  : Melanie Walz
  • Sprecher  :  Marion Martienzen
  • Ausgabe  :  Ungekürzte Ausgabe, 5 Stunden und 33 Minuten
  • ASIN  : B08KJFX65J
  • Originaltitel ‏ : ‎ You Gotta Have Balls, 2005





Himmel! Manchmal stellen Challenges einen doch vor etwas schwierigere Aufgaben. In diesem Quartal sollte ich insgesamt vier Bücher lesen, die verfilmt wurden. Gut, wenn man anfängt, sich damit zu beschäftigen, merkt man schnell, dass mehr Romane verfilmt wurden als man anfangs denkt, aber es dauert eben doch seine Zeit, sich dann letztlich für die richtigen Titel zu entscheiden, die auch zum eigenen Leseverhalten passen. "Chuzpe" war nun der vorletzte Titel, der mir für diese Aufgabe noch fehlte, und ich hätte ihn fast nicht genommen, weil die Verfilmung - nun ja. Ich muss nicht unbedingt verstehen, weshalb die Handlung im Film von New York nach Berlin verlegt wurde, und Dieter Hallervorden als Hauptfigur... Aber letztlich geht es ja gar nicht um den Film und ob er mir gefallen würde oder nicht, sondern um das (Hör-)Buch selbst. 
 

 





















KLOPS BRAUCHT DER MENSCH!


Ruth ist eine Frau in den mittleren Jahren, die drei Kinder sind bereits aus dem Haus, und ihr Mann hält sich derzeit beruflich für ein halbes Jahr in Australien auf. Langeweile kennt Ruth jedoch nicht. Sie führt erfolgreich ein Schreibbüro und verfasst Grußkarten und Briefe für wohlhabende Leute. Mit ihrem 87jährigen Vater Edek, der vor kurzem von Melbourne nach New York gezogen ist, um Ruth näher zu sein, ist jedoch noch eine besondere Aufgabe in ihr Leben getreten. Wie bremst man einen überaus agilen Mann, der sich gerne um alles kümmert und dabei aber oft am Ziel vorbeischießt?

Zunächst gründet er die "Vorwärtsabteilung" in ihrer Firma und bestellt nach eigenem Gutdünken Dinge für das Schreibbüro, die am realen Bedarf eindeutig vorbei gehen. Ruth lässt ihren Vater etwas fassungslos aber tapfer agieren, hat er so doch eine Aufgabe gefunden und lässt sie selbst in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Dass sie hier nicht die Notbremse zieht, zeigt zum einen, wie gut es ihr finanziell geht und weist zum anderen auf die etwas verzwickte Vater-Tochter-Beziehung hin.

Edek und Ruth sind nicht nur jüdischen Glaubens, sondern Edek hat zudem seinerzeit das Ghetto von Lodz und Auschwitz überlebt und verdient in Ruths Augen für den Rest seines Lebens einen tiefen Respekt. Seit Ruths Mutter gestorben ist, ist sie nun diejenige, die als Tochter eine Fürsorgepflicht zu erfüllen hat und alles daran setzt, dass es ihrem Vater gut geht. Sie finanziert ihm eine Wohnung in New York und freut sich, dass Edek allmählich wieder aufblüht.

Ruth selbst hat jedoch schon Jahre der Therapie hinter sich, denn das Aufwachsen als Kind von Überlebenden des Holocaust hat durchaus Spuren hinterlassen. Sie hat und pflegt ihre kleinen Eigenheiten und Neurosen, ist zudem geplagt von ständiger Sorge. Ruth achtet sehr auf sich und ihren Körper, isst wenig und nur gesund, treibt Sport und pflegt einen sehr strukturierten Tagesablauf. Durch das Eintreffen ihres Vaters gerät all das Geregelte allmählich ins Wanken, und als Edek nach der Bekanntschaft mit zwei älteren polnischstämmigen Frauen wie aus heiterem Himmel beschließt, einfach ein Restaurant zu eröffnen, steht Ruths Welt plötzlich Kopf.

"Klops braucht der Mensch" soll das Restaurant an der Lower Eastside heißen, und mit Feuereifer machen sich Edek, Zofia und Valentina an die Umsetzung ihres Plans, und nichts und niemand scheint sie dabei aufhalten zu können. Gerade einmal 30.000 Dollar stehen ihnen dafür zur Verfügung, eine lächerlich kleine Summe nach Meinung aller von Ruth zu Rate gezogenen Experten. Und die 30.000 Dollar stammen zudem auch noch von Ruth, die aber weniger den Verlust des Geldes befürchtet als die Auswirkungen einer sicher zu erwartenden Enttäuschung auf ihren Vater. Wenn solch ein letztes Lebensziel platzt - was dann?!


“Ruthy, Ruthy, reg dich runter!”


Herrlich absurd und gleichzeitig voller Wärme kommt diese schräge, herzerfrischende, jüdische New Yorker Komödie daher. Ich mochte die liebenswerte Schlitzohrigkeit Edeks, dessen sprühende Lebensfreude (trotz allem) und seine Bereitschaft, so absolut im Hier und Jetzt zu leben und es verdammt noch mal (Verzeihung) auch zu genießen, auch wenn es manchmal anstrengend ist. Und ich mochte es, wie die Ereignisse und die stoische Unbeirrbarkeit Edeks schließlich auch Auswirkungen auf Ruths Leben und ihre Neurosen zeigten. Und wie sich Vater und Tochter letztlich doch auch emotional ganz allmählich annäherten.

Der Schreibstil erscheint im Allgemeinen flüssig, jedoch manchmal etwas einfallslos, was aber u.U. auch an der Übersetzung liegen könnte. Marion Martienzen als Sprecherin der ungekürzten Hörbuchausgabe (5 Stunden und 33 Minuten) hatte für mein Empfinden leider doch etwas Mühe, in die Erzählung hinein zu finden. Vor allem die Vertonung von Ruths Vater Edek geriet anfangs eher in Richtung geistig unterbemittelt denn einfach in Richtung polnisch-jüdischer Akzent, das war zumindest der Eindruck der sich mir unangenehm und unpassend aufdrängte. Doch entweder konnte sich die Sprecherin im Verlauf besser auf die Rolle Edeks einstellen oder aber ich habe mich einfach an ihre Art des Vortrags gewöhnt und versucht, über diese Nuancen hinweg zu hören.

Hintergründige Unterhaltung, die trotz der leisen Melancholie zutiefst lebensbejahend ist. Empfehlenswert!


© Parden























Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Brunswick in Australien aus. Mit neunzehn Jahren begann Lily Brett für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte und porträtierte zahlreiche Stars wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger. Heute lebt die Autorin in New York. In regelmäßigen Kolumnen der Wochenzeitung DIE ZEIT hat Lily Brett diese Stadt porträtiert. Sie ist mit dem Maler David Rankin verheiratet und hat drei Kinder. (Quelle: Suhrkamp Verlag)






Marion Martienzen, auch Marion Marlon, (* 11. April 1953 in Berlin) ist eine deutsche Schauspielerin, Synchronsprecherin, Hörspielsprecherin und Sängerin. (Quelle: Wikipedia)






1 Kommentar:

  1. "Vor allem die Vertonung von Ruths Vater Edek geriet anfangs eher in Richtung geistig unterbemittelt denn einfach in Richtung polnisch-jüdischer Akzent, das war zumindest der Eindruck der sich mir unangenehm und unpassend aufdrängte." - Ich hätte keine Ahnung, wie "polnisch-jüdischer-Akzent" anzuhören ist. Auch in meinen Ohren klingen hier höchstens Klischees.
    Vielleicht aber merke ich mir nun mal, was "Chuzpe" ist.
    Der Bücherjunge

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