Samstag, 21. September 2013

Ogawa, Yoko: Schwimmen mit Elefanten


Ein Junge wird von einem ehemaligen Fahrer, der in einem ausrangierten Bus auf dem Gelände der Verkehrsbetriebe wohnt, in die Geheimnisse des Schachs eingeweiht. Der Mann hat sofort das außergewöhnliche Talent des Jungen erkannt, der am besten spielt, wenn er unter dem Schachbrett sitzt - ohne die Figuren vor sich zu haben, ohne seinem Gegner in die Augen zu sehen. Jedoch wird ihm aufgrund dieser Angewohnheit der Beitritt in den örtlichen Schachklub verwehrt. Er darf nur einen Schachautomaten bedienen, der die Gesichtszüge des berühmten Großmeisters Alexander Alexandrowitsch Aljechin trägt. Im Inneren des Automaten, eingezwängt zwischen Hebeln und Knöpfen, treibt der Junge seine Kunst zur Vollendung. Doch dann kommt es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall ...



Der Zauber des Schachspielens...

(zuerst veröffentlicht von parden auf Buchgesichter.de am  18.09.2013)


Ein kleiner Junge, der mit seinem Bruder bei seinen Großeltern aufwächst, lebt mit einem Handicap. Bei seiner Geburt waren beide Lippen zusammengewachsen und mussten vom Arzt erst auseinandergeschnitten und dann mit Hilfe eines kleinen Stückchens Haut aus seiner Wade rekonstruiert werden. Für den Jungen fühlen sich diese Lippen seither wie ein Fremdkörper an - er nutzt sie kaum einmal zum Sprechen, und dass dort kleine Härchen wachsen wie an seinem Bein, macht ihn in der Schule rasch zum Außenseiter.
So hat der Junge nur zwei besondere Freunde. Einen Elefanten, der als Attraktion
Der Elefant schwimmt mit dem Jungen im Ozean des Schachs.
für Kinder in einem Kaufhaus präsentiert und eines Tages zu groß für den Aufzug wurde, so dass er den Rest seines Lebens auf dem Kaufhausdach verbringen musste. Zu Zeiten des Jungen erinnert nur noch eine kleine Plakette an diesen Elefanten. Und ein kleines Mädchen namens Miira, was so viel wie Mumie bedeutet. Einer Legende zufolge ist eines Tages ein kleines Mädchen in den schmalen Spalt zwischen dem Haus der Großeltern und dem Nachbarhaus geraten und nicht wieder herausgekommen - und nun unterhält sich der Junge jede Nacht mit der Hand an der Wand mit diesem toten Mädchen...

 

Dem Jungen ist klar, dass er anders ist als andere Kinder, und so fragt er eines Tages seine Großmutter, wie das sein kann. "Das kann man nicht immer sofort erkennen (...) auch der liebe Gott handelt manchmal etwas überstürzt (...) Vielleicht hat er sich ja an einer anderen Stelle sehr viel Mühe gegeben und es deshalb nicht rechtzeitig geschafft, noch deine Lippen zu trennen. (Da) ist bestimmt etwas ganz Besonderes dabei herausgekommen." (S. 25)
Dieses Besondere erkennt zuerst ein ehemaliger Busfahrer, passionierter Kuchenfreund und Schachspieler. Dieser Mann weiht ihn in die Geheimnisse des
Der Zauber des Spiels
Schachs ein - und entdeckt sofort das außergewöhnliche Talent des Jungen. Nicht nur, dass er sehr schnell die Regeln begreift, sondern er ist auch zugänglich für den Zauber dieses Spiels. "Für ihn ging es nie darum, den König des Gegners in die Enge zu treiben, sondern die Schönheit des Spiels zu genießen. Denn die Gabe, in einzelnen Schachzügen die Klangfarbe einer Violine zu erkennen oder das Spektrum des Regenbogens (...) ist etwas anderes, als bloß eine Partie zu gewinnen." (S. 39 f.)

 

Doch auch hier offenbart sich eine besondere Eigenart des Jungen. Er kann am besten spielen, wenn er unter dem Schachtisch sitzt, sich die Züge vor seinem inneren Auge vergegenwärtigt und nur am Geräusch erkennt, welchen Zug der Gegner gerade vollzieht. Bei aller Begabung wird er so jedoch nicht in den renommierten Schachclub der Stadt aufgenommen, denn diese Eigenart mutet zu befremdlich an und entspricht nicht den strengen Statuten.
Allerdings darf der Junge einen Schachautomaten bedienen, der die Gesichtszüge
Alexander Alexandrowitsch Aljechin (1892-1946)
des berühmten Großmeisters Alexander Alexandrowitsch Aljechin trägt. Im Inneren des Automaten, eingezwängt zwischen Hebeln und Knöpfen, treibt der Junge seine Kunst zur Vollendung - und da sein Entschluss, nicht mehr zu wachsen (denn alle Freunde, die er je hatte, sind durch Größerwerden ins Unglück geraten) sich zu erfüllen scheint, verschmilzt der Junge immer mehr mit der Figur der Puppe, bis er selbst zum Kleinen Aljechin wird, "dem Poeten unter dem Schachbrett" (S. 236).

 

Kann Schach bezaubern? Nun, Yoko Ogawa beweist einmal mehr ihr großes Können. Nach "Das Geheimnis der Eulerschen Formel" und der Poesie der Mathematik wendet sie sich hier dem Zauber des Schachspielens zu. Obschon parabelhaft und mit Figuren, die keinen wirklichen Namen tragen, schafft es die Autorin, dass die Klänge ihrer Sätze berühren. Zurückhaltend und behutsam scheinen die Worte gesetzt, dabei aber klar und anmutig.
Einsamkeit bis hin zur Selbstaufgabe, aber eben auch das Erhabene, das Umfassende, das das Schachspiel beinhalten kann, wenn man tief genug in das
Sujet eintaucht - all das umfasst die Autorin mit ihrem Werk. Der Junge taucht ein in diesen unendlichen Ozean und erkennt: "Ein Schachbrett ist unendlich. Es mag zwar nur eine flache Holzplatte sein mit einem Muster aus vertikalen und horizontalen Linien, aber es birgt das ganze Universum in sich." (S. 231) Yoko Ogawa lädt dazu ein, dieses magische Universum mit ihr zu erkunden.

 

Magisch, fantastisch, surreal - eigentlich unbeschreiblich, wenn man es nicht selbst gelesen hat. Nie hätte ich geahnt, wie facettenreich und im wahrsten Sinne zauberhaft die Welt des Schach sein kann. Die Entdeckung lohnt sich! Für mich eines der schönsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Eine unbedingte Empfehlung daher von mir!



 © Parden  







Ich danke dem Verlag Liebeskind ganz herzlich für das Überlassen dieses Rezensionsexempars! 





Yoko Ogawa
Yoko Ogawa gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun'ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri- Preis. Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo.


Auf Deutsch erscheint ihr Werk im Münchner Liebeskind-Verlag.

2 Kommentare:

  1. Ich komme immer mehr ins Staunen, was für tolle Bücher du in letzter Zeit gelesen hast. Zeit müsste man haben.

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    1. Yoko Ogawa ist für mich DIE Entdeckung des Jahres. Von ihr werde ich sicherlich noch weitere Bücher lesen...

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