Samstag, 11. März 2023

Filipenko, Sasha: Kremulator

Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrautem Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen. Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen? (Klappentext)


DNB / Diogenes / 2023 / ISBN: 978-3257072396 / 256 Seiten

Filipenko auf Litterae Artesque: Rote Kreuze, Der ehemalige Sohn, Die Jagd









 Kurzmeinung:

 
Hält die Lesenden sehr auf Distanz, wobei Zynismus und Sarkasmus die russische Schreckensherrschaft vergangener (?) Zeiten erträglich machen...
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 MIT DEM TOD AUF DU UND DU...

 
 
Am Tag nach Beginn des deutschen Angriffskriegs auf die UDSSR unter Stalin (22.6.1941) werden über 1000 Menschen verhaftet - angeblich alles Spione, Saboteure oder Landesverräter. Unter ihnen auch Pjotr Nesterenko, der 55jährige Direktor des Moskauer Krematoriums. 


"Ein Gott der Asche war ich. Ale Vulkane der Welt (...) erblassen angesichts der Mengen von Asche, die ich jeden Tag produziere. Mein Keller auf dem Donskoi-Friedhof war eine richtige Unterwelt. Hades - (...), ich war der, dessen Namen man mied. (...) Zeus verfügte über die Welt der Menschen und den Himmel, Poseidon über die Meere, ich über alle Friedhöfe Moskaus und das erste Krematorium der Sowjetunion - einen Ort, den sogar die Götter verabscheuten..." (S. 39)


Aus der Haft wird er nicht mehr entkommen, so viel ist Nesterenko klar. Er hat schon zu viel gesehen und erlebt um sich Illusionen zu machen und weiß wie das "Spiel" läuft - das Urteil steht bereits fest, nur der Schein muss gewahrt bleiben. Und womöglich fallen während seiner Verhöre noch einige Namen, die dann wieder auf die endlose Säuberungsliste gelangen, der Hunger der unmenschlichen russischen Maschinerie ist grenzenlos. Doch so leicht macht es Nesterenko dem Ermittler der Staatssicherheit nicht, Perepeliza, keine dreißig Jahre alt. Mit Zynismus und Sarkasmus hat Nesterenko sein Leben bisher gemeistert, das, so wird es sich im Verlauf des Romans zeigen, viele Begebenheiten aufwies, die andere hätten verzweifeln lassen. Und diese nahezu lakonische Art lässt ihn auch die Verhöre fast schon gelassen überstehen.


"Die russische Denunziation ist absurd und gnadenlos..." (S. 125)


Die Ermittlungen befassen sich mit dem gesamten Leben des Delinquenten, das viele Stationen beinhaltete. Eine Jugend unter dem letzten Zar, der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der anschließende Bürgerkrieg, die Flucht vor den Bolschewisten nach Belgrad, Istanbul, Paris, schließlich die Rückkehr in die Sowjetunion. Dabei sehnt sich Pjotr Nesterenko eigentlich nur danach, Pilot zu werden und seine Jugendfreundin Vera wiederzufinden. Einmal zurück in Russland, wird Nesterenko Direktor des ersten Moskauer Krematoriums, und nur zu bald wird deutlich, wie vielseitig und praktisch diese Anlage einzusetzen ist. Tagsüber verbrennt er die offiziell angemeldeten Toten - und nachts kommen die Hingerichteten, die Opfer des stalinistischen Terrorregimes, von denen am Ende nur die Kugeln übrig bleiben. 


"Jetzt ist mir klar, dass er wirklich nichts in der Hand hat gegen mich - aber das ist das Gefährlichste (...) Das Schlimmste ist, dass das mustergültiger sowjetischer Irrsinn ist. So was glauben sie sofort." (S. 197)


Über weite Strecken empfand ich den Roman als chaotisch und verworren. Ebenso wie die Geschichte Russlands zu der geschilderten Zeit turbulent und undurchsichtig war, gerät Nesterenko zum Spielball der Historie. Wer sich mit den historischen Gegebenheiten (und wichtigen historischen Persönlichkeiten) nicht ausreichend auskennt, der schlackert hier doch so manches Mal mit den Ohren. Mir jedenfalls ist es phasenweise so ergangen, und ich hatte ehrlich gesagt keine große Lust, bei jedem zweiten Satz wieder anderweitig zu recherchieren, was es mit den jeweiligen Andeutungen nun auf sich hat. Denn hier wird in der Tat vieles nur angerissen und offenbar als bekannt vorausgesetzt. Ist dem nicht so, gerät das Lesen durchaus auch zur Anstrengung.


"Fanatismus ist immer noch die gefährlichste Art von Dummheit" (S. 183)


Diesem Roman liegen Verhörprotokolle zugrunde, die Filipenko von der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ erhalten hat, die im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis erhielt. Etliche Fragen der Verhöre Nesterenkos stammen somit wohl aus den originalen Protokollen. Das erklärt auch, weshalb der Ermittler Perepeliza hier weniger Wert auf Folter und Gewalt legt als man es vielleicht erwarten würde und weshalb Nesterenko bei den Befragungen seine "Witzchen" reißen kann - hier ging es Filipenko wohl sehr darum, möglichst viele Fragestellungen der originalen Protokolle in seinen Text einzubauen. Der Autor schreibt "eher journalistisch als literarisch" befindet denn auch der Kommentar von WDR-Kultur zu dem neuesten Roman Filipenkos. 

Dies geht m.E. zulasten der Tiefe von Handlung und Personen. Sarkasmus und Zynismus helfen Nesterenko nicht nur dabei, sein Leben zu ertragen und nicht zu verzweifeln, diese Stilmittel halten auch die Lesenden auf Distanz. Stellenweise sorgt der Roman für ein Schaudern oder kurze Betroffenheit, wirklich berühren kann er aber nicht. Atmosphärische Schilderungen oder psychologische Charakterzeichnungen sucht man hier vergeblich.

Dennoch hat mir der Roman letztlich gefallen, denn die Willkür der wechselnden totalitären Regierungen Russlands, das Vergebliche des Versuchs sich "richtig" zu verhalten, die Allgegenwärtigkeit denunziierender Mitbürger:innen, die geringe Bedeutung (mit-)menschlicher Aspekte - all das wurde hier glaubwürdig transportiert. Und damit wurde dann auch der Bogen geschlagen zum Russland von heute. Denn - um mal eine altgediente Weisheit zu bemühen - die Geschichte wiederholt sich...

Ein düsterer Blick auf russische Verhältnisse von einem Autor, der nach Weißrussland schließlich auch Russland verlassen musste. 


© Parden

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ›Die Jagd‹ war ein ›Spiegel‹-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz. (Quelle: Diognes Verlag)



 

2 Kommentare:

  1. Ich sehe, du liest aktuelle Literatur. "Die Geschichte wiederholt immer zweimal: sich das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce." Das stammt übrigens von Karl Marx.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. https://litterae-artesque.blogspot.com/2018/10/wilson-christopher-guten-morgen-genosse.html
      Guten Morgen, Genosse Elefant. - Irgendwie passt das zueinander.

      Löschen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.