Kurzmeinung:
MIT DEM TOD AUF DU UND DU...
"Ein Gott der Asche war ich. Ale Vulkane der Welt (...) erblassen angesichts der Mengen von Asche, die ich jeden Tag produziere. Mein Keller auf dem Donskoi-Friedhof war eine richtige Unterwelt. Hades - (...), ich war der, dessen Namen man mied. (...) Zeus verfügte über die Welt der Menschen und den Himmel, Poseidon über die Meere, ich über alle Friedhöfe Moskaus und das erste Krematorium der Sowjetunion - einen Ort, den sogar die Götter verabscheuten..." (S. 39)
Aus der Haft wird er nicht mehr entkommen, so viel ist Nesterenko klar. Er hat schon zu viel gesehen und erlebt um sich Illusionen zu machen und weiß wie das "Spiel" läuft - das Urteil steht bereits fest, nur der Schein muss gewahrt bleiben. Und womöglich fallen während seiner Verhöre noch einige Namen, die dann wieder auf die endlose Säuberungsliste gelangen, der Hunger der unmenschlichen russischen Maschinerie ist grenzenlos. Doch so leicht macht es Nesterenko dem Ermittler der Staatssicherheit nicht, Perepeliza, keine dreißig Jahre alt. Mit Zynismus und Sarkasmus hat Nesterenko sein Leben bisher gemeistert, das, so wird es sich im Verlauf des Romans zeigen, viele Begebenheiten aufwies, die andere hätten verzweifeln lassen. Und diese nahezu lakonische Art lässt ihn auch die Verhöre fast schon gelassen überstehen.
"Die russische Denunziation ist absurd und gnadenlos..." (S. 125)
Die Ermittlungen befassen sich mit dem gesamten Leben des Delinquenten, das viele Stationen beinhaltete. Eine Jugend unter dem letzten Zar, der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der anschließende Bürgerkrieg, die Flucht vor den Bolschewisten nach Belgrad, Istanbul, Paris, schließlich die Rückkehr in die Sowjetunion. Dabei sehnt sich Pjotr Nesterenko eigentlich nur danach, Pilot zu werden und seine Jugendfreundin Vera wiederzufinden. Einmal zurück in Russland, wird Nesterenko Direktor des ersten Moskauer Krematoriums, und nur zu bald wird deutlich, wie vielseitig und praktisch diese Anlage einzusetzen ist. Tagsüber verbrennt er die offiziell angemeldeten Toten - und nachts kommen die Hingerichteten, die Opfer des stalinistischen Terrorregimes, von denen am Ende nur die Kugeln übrig bleiben.
"Jetzt ist mir klar, dass er wirklich nichts in der Hand hat gegen mich - aber das ist das Gefährlichste (...) Das Schlimmste ist, dass das mustergültiger sowjetischer Irrsinn ist. So was glauben sie sofort." (S. 197)
Über weite Strecken empfand ich den Roman als chaotisch und verworren. Ebenso wie die Geschichte Russlands zu der geschilderten Zeit turbulent und undurchsichtig war, gerät Nesterenko zum Spielball der Historie. Wer sich mit den historischen Gegebenheiten (und wichtigen historischen Persönlichkeiten) nicht ausreichend auskennt, der schlackert hier doch so manches Mal mit den Ohren. Mir jedenfalls ist es phasenweise so ergangen, und ich hatte ehrlich gesagt keine große Lust, bei jedem zweiten Satz wieder anderweitig zu recherchieren, was es mit den jeweiligen Andeutungen nun auf sich hat. Denn hier wird in der Tat vieles nur angerissen und offenbar als bekannt vorausgesetzt. Ist dem nicht so, gerät das Lesen durchaus auch zur Anstrengung.
"Fanatismus ist immer noch die gefährlichste Art von Dummheit" (S. 183)
Diesem Roman liegen Verhörprotokolle zugrunde, die Filipenko von der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ erhalten hat, die im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis erhielt. Etliche Fragen der Verhöre Nesterenkos stammen somit wohl aus den originalen Protokollen. Das erklärt auch, weshalb der Ermittler Perepeliza hier weniger Wert auf Folter und Gewalt legt als man es vielleicht erwarten würde und weshalb Nesterenko bei den Befragungen seine "Witzchen" reißen kann - hier ging es Filipenko wohl sehr darum, möglichst viele Fragestellungen der originalen Protokolle in seinen Text einzubauen. Der Autor schreibt "eher journalistisch als literarisch" befindet denn auch der Kommentar von WDR-Kultur zu dem neuesten Roman Filipenkos.
Dies geht m.E. zulasten der Tiefe von Handlung und Personen. Sarkasmus und Zynismus helfen Nesterenko nicht nur dabei, sein Leben zu ertragen und nicht zu verzweifeln, diese Stilmittel halten auch die Lesenden auf Distanz. Stellenweise sorgt der Roman für ein Schaudern oder kurze Betroffenheit, wirklich berühren kann er aber nicht. Atmosphärische Schilderungen oder psychologische Charakterzeichnungen sucht man hier vergeblich.
Dennoch hat mir der Roman letztlich gefallen, denn die Willkür der wechselnden totalitären Regierungen Russlands, das Vergebliche des Versuchs sich "richtig" zu verhalten, die Allgegenwärtigkeit denunziierender Mitbürger:innen, die geringe Bedeutung (mit-)menschlicher Aspekte - all das wurde hier glaubwürdig transportiert. Und damit wurde dann auch der Bogen geschlagen zum Russland von heute. Denn - um mal eine altgediente Weisheit zu bemühen - die Geschichte wiederholt sich...
Ein düsterer Blick auf russische Verhältnisse von einem Autor, der nach Weißrussland schließlich auch Russland verlassen musste.
© Parden
Ich sehe, du liest aktuelle Literatur. "Die Geschichte wiederholt immer zweimal: sich das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce." Das stammt übrigens von Karl Marx.
AntwortenLöschenhttps://litterae-artesque.blogspot.com/2018/10/wilson-christopher-guten-morgen-genosse.html
LöschenGuten Morgen, Genosse Elefant. - Irgendwie passt das zueinander.