Alexander ist ein junger Mann, dessen Leben brutal entzweigerissen
wurde. Tatjana Alexejewna ist über neunzig und immer vergesslicher. Die
alte Dame erzählt ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte, die das
ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken umspannt. Nach
und nach erkennen die beiden ineinander das eigene gebrochene Herz
wieder und schließen eine unerwartete Freundschaft, einen Pakt gegen das
Vergessen. (Quelle: Diogenes Verlag)
- Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
- Verlag: Diogenes; Auflage: 2 (26. Februar 2020)
- Sprache: Deutsch
- Übersetzung: Ruth Altenhofer
- ISBN-10: 3257071248
- ISBN-13: 978-3257071245
Gelesen habe ich diesen Roman im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin, wo über die Lektüre einmal mehr sehr lebendig diskutiert wurde. Dem Diogenes Verlag danke ich in diesem Rahmen für die Bereitstellung eines Leseexemplars!
EINE BIOGRAFIE DER ANGST...
Quelle: Pixabay |
Alexander zieht mit seinen 30 Jahren und seiner 3 Monate alten
Tochter in eine neue Stadt und in eine leere Wohnung. Er will einen
Neuanfang, und da kommt es ihm entgegen, dass er in dieser Stadt nichts
und niemanden kennt. Doch die 90jährige Nachbarin lädt ihn bereits an
seinem ersten Tag in der neuen Wohnung zu sich ein - und hört nicht mehr
auf zu erzählen.
Zunächst weiß Alexander (oftmals auch Sasha genannt) nicht, was er
von der alten Dame halten soll. Sie gesteht freimütig, dass sie an
Alzheimer leidet und deshalb beispielsweise mit roten Kreuzen im Haus
ihren Heimweg markiert. Doch an das, was lange zurückliegt, kann sich
Tatjana Alexejewna sehr wohl erinnern. Und das gibt sie hier nach und
nach preis.
Auch wenn der Autor hier den Dialog zwischen zwei sehr
unterschiedlichen Charakteren gewählt hat, bleibt Alexander als Figur
doch recht blass. Tatsächlich geht es hier im Wesentlichen um Tatjanas
Schicksal, um ihre 'Biografie der Angst'. Dabei wählt Sasha Filipenko
eine sehr distanzierte Erzählweise, so dass selbst die ärgsten Gräuel
kaum ein Mitschwingen beim Leser auslösen. Sowohl die Konstellation der
Charaktere als auch die offenbar gewollte Distanz des Lesers zu den
Figuren haben mich doch ziemlich irritiert.
Dabei wird rasch offensichtlich, welches Thema der Autor hier in den
Mittelpunkt rückt: den Stalinismus und seine zahllosen Opfer, die
offenkundige Willkür des Regimes und seiner Helfershelfer, die
Wertlosigkeit eines einzelnen Menschenlebens, die Politik der
Unterdrückung und der Angst, gleichzeitig auch die Verherrlichung des
Diktators im Volk - etwas, das sich bis in die heutige Zeit zieht und
deshalb das aktive Vergessen all der Gräuel des Stalinismus unterstützt.
Der Autor setzt sich dagegen mit seinen Mitteln zur Wehr und pocht
darauf, sich dem Vergessen entgegen zu stemmen.
Ein lobenswerter, ein wichtiger, ein angesichts von Putins rückwärts
gewandter Politik auch mutiger Ansatz. Allein die Umsetzung hat mir
nicht zugesagt. Auch Alexander hat einen schweren Schicksalsschlag
hinter sich, der jeden schwer traumatisiert zurücklassen würde. Doch
angesichts von Tatjanas Odyssee der Angst verblasst dieses persönliche
Drama sofort und spielt im Verlauf auch kaum noch eine Rolle.
Es mag sein, dass der Autor verdeutlichen wollte, dass das
schreckliche Schicksal eines Einzelnen nichts wiegt im Verhältnis zu den
Massen, die unter Stalin der Willkür ausgesezt waren und leiden
mussten. Es mag sein, dass Tatjana einfach einen Zuhörer der
übernächsten Generation brauchte, damit ihre Geschichte nicht verloren
geht - und dazu jemanden, der zumindest weiß, was Leid bedeutet. Aber
das Größenverhältnis der beiden Hauptcharaktere hinkt doch gewaltig. Die
Geschichten der beiden Nachbarn stehen noch dazu auch vollkommen
zusammenhanglos nebeneinander.
Mit der Art der Konzeption hatte ich auch so meine Schwierigkeiten.
Die Chronologie der Ereignisse wird in kurzen oder manchmal auch etwas
längeren Schlaglichtern sichtbar, herausgerissen aus dem Zeitgeschehen,
kurz beleuchtet und wieder ins Dunkle gleitend. Das ist keine
zusammenhängende Geschichte, sondern eine szenische Darstellung, die die
Gesamtheit der erlebten Gräuel nur erahnen lässt. Die Handlungsstränge
werden nicht verwoben, sondern stehen einfach neben- und hintereinander.
Emotionen werden nicht wirklich transportiert, nur eine leise Gänsehaut
schleicht sich dann und wann ein, weil man eine vage Vorstellung von
dem bekommt, was da geschehen ist.
Dazu hat der Autor immer wieder auch Original-Schriftstücke mitten im
Text eingefügt, ebenso wie etliche Gedichte. Zur Verdeutlichung und
Unterstreichung des Erzählten hätten da m.E. einige wenige gereicht - in
dieser großen Anzahl störte es meinen Lesefluss doch immer wieder.
Durch das angefügte Interview mit dem Autor habe ich verstanden,
weshalb dieser Roman so wichtig ist - gegen das Vergessen. Dem stimme
ich uneingeschränkt zu. Ich finde aber doch, dass dem Roman die Arbeit
des Autors als Journalist anzumerken ist - die Fakten stehen im
Vordergrund, das Schicksal von Tatjana erläutert 'nur' die Auswirkungen
dessen, was da an Politik zu Zeiten Stalins betrieben wurde. Und
heute...
Doch trotz aller Kritik halte ich den Roman allein schon aufgrund der
deutlich zu verspürenden großen Ambition des Autors und wegen des
überaus wichtigen Themas in jedem Fall für empfehlenswert. Auch Russland
braucht Bücher 'gegen das Vergessen'!
© Parden
Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein weißrussischer
Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen
klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und
arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine
Satire-Show und Fernsehmoderator. ›Rote Kreuze‹ ist der erste seiner
fünf Romane, der auf Deutsch erscheint. Sasha Filipenko ist
leidenschaftlicher Fußballfan und lebt in St. Petersburg. (Quelle: Diogenes Verlag)
Da ist das Problem. Wenn das Schicksal des Individuums nichts wiegt im Vergleich zu dem der Massen, dann käme das dem Stalinismus wieder näher. Schwierig. Aber ich werde demnächst mit etwas anderem aus dieser Zeit folgen.
AntwortenLöschenDa bin ich gespannt!
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