Montag, 13. April 2020

Kallbach / Münzberg: Mayday über Saragossa

Im letzten Jahr berichtete ich von einem Ausflug nach Stölln. Es war ein li(t)erarischer Ausflug, dessen Ausbeute neben anderen dieses beinhaltete: MAYDAY ÜBER SARAGOSSA. Ein Fliegerbuch. 

Gemeinsam mit Heribert Münzberg hat Flugkapitän Heinz-Dieter Kallbach dieses Buch herausgebracht. Kallbach war Jahrzehnte lang Pilot bei der INTERFLUG. Seine Geschichte aufzuschreiben, warum nicht mit jenem Münzberg (1941 – 2010), der als Experte für DDR-Wirtschaftsgeschichte mit Treuhanderfahrung diesen Staatskonzern unter militärisch-ziviler Leitung gut kannte? Die beiden taten sich zusammen und herausgekommen ist eine ungewöhnliche Autobiografie über das „spektakuläre Leben einer Fliegerlegende“




© URDD
Wer nun gleich dem Link zum Bericht über diesen Ausflug an den Ort, der den letzten Flugversuch eines Otto Lilienthal gefolgt ist, der hat ihn schon gesehen, diesen riesigen Fernstreckenflieger auf einem Acker in der Mark Brandenburg. Wie kommt der denn dahin? Kleinere Flieger der Reihe Iljuschin stehen ja hier oder da als Denkmal rum. Eine steht auf dem Gelände des Flughafens Dresden und hat eine eigene Geschichte. Vielleicht hat die auch mal dieser Heinz Dieter Kallbach geflogen?


Flugzeugtypen
Es lohnt sich, ein paar Daten über diesen Mann, der 1940 in Essen geboren wurde, hier unvollständig anzubringen: über 18500 Starts, über 33000 Flugstunden, über 535  mal um die Erde geflogen, über 250 Flughäfen und Flugplätze in knapp 100 Ländern angesteuert und einen Eintrag im Guinnes-Buch der Rekorde. Zehn Triebwerksausfälle hat er erlebt. Zweimal Triebwerksbrand - er hat immer alle heil zurück auf den Boden gebracht und wurde mit der Otto-Lilienthal-Medaille ausgezeichnet.

Im Jahr 1987 stellte er mit einer Iljuschin IL 62M einen Weltrekord auf: In neun Stunden und 40 Minuten flog er mit diesem Passagierflugzeug nonstop von Peking nach Berlin. Das ist die erste Geschichte, die wir im Buch nachlesen können, in der der Generaldirektor (Generalmajor Dr. Henchkes) und der Flugkapitän Kallbach die sowjetische Flugsicherung von ihrem Vorhaben, ohne Zwischenlandung in Moskau einfach weiter zu fliegen, überzeugen müssen.

Kallbach, der seine Kindheit in der Lausitz verbrachte,  kam über die NVA zum Piloten von Passagierflugzeugen. Das ging wohl nie anders, auch später (fast?) ging dies nur über den Militärdienst und anschließender Umschulung. Mit 17(!) kommt er zur NVA und wird jüngster Flugzeugführer. Damals ging das vermutlich noch vergleichsweise schnell. Die Kapitel des Buches weisen seine „Abenteuer“ aus. Sie lauten zum Beispiel: 

Mit der IL-14 nach Ägypten
Vietnam im Bombenhagel
Funkstille über Huambo
Im Palast Kim Il Sungs
Chef der IL-62-Flotte
Das Wunder von Stölln und
Mayday über Saragossa

Es ist gleichzeitig die Geschichte einer Fluggesellschaft, die einst gern als Billigflieger für Manager des „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes“ genutzt wurde, von diesen aber nach 1990 doch schnell als Konkurrent am europäischen Himmel abgewickelt wurde. 

Der Mann hat Sachen erlebt, da erscheint die gern gesehene Interflug TV Serie "Treffpunkt Flughafen" des DDR-Fernsehens total harmlos. Manche Aktion wurde sicher auch geheimgehalten, zum Beispiel wenn er auf seltsamen Wegen in einem ostafrikanischen Land aufklären sollte, mit was für einem Flieger man da landen könnte. Vermutlich war auch fragwürdige Fracht dabei. Oder Bergleute und Bergwerksausrüstung für Mosambique...

Es ist eine DDR-Bilderbuch-Karriere – sicherlich. Doch kommt Kunst halt immer noch vom Können. Natürlich wird von der Rolle der Staatssicherheit erzählt, die bei solchen Aktionen wie bei der Personalauswahl allgegenwärtig war. Doch der Fokus liegt auf der Fliegerei. 



Wieso fliegt der Chef der Staffel eine IL-62M  auf den Acker nach Stölln? Wo doch so viele, einschließlich das Iljuschin-Konstruktionsbüro in der Sowjetunion, das Vorhaben als undurchführbar ablehnen? Die INTERFLUG hat das Ding dem Ort geschenkt.  Wegen Otto Lilienthal natürlich. Die Maschine hatte ihre vorgesehene Anzahl an Starts und Landungen hinter sich.Nach langem Hin und Her, Besichtigungen vor Ort und dann die Überlegung, was muss mit der Maschine passieren, damit das klappt, war es am 23. Oktober 1989 soweit. Sogar ein paar Bäume mussten abgeholzt werden, damit der Flieger tief genug einfliegen konnte. Und den Umkehrschub noch im Flug zu benutzen, war ein fliegerisches Unding und verboten. Das alles habe ich nicht mitbekommen? Am 23. Oktober 1989 hatten viele Leute in dieser DDR wohl anderes im Kopf als eine derartige Aktion. Heute nicht mehr vorstellbar, das Luftfahrtbundesamt bekäme einen Schock, gäbe es ein solches Ansinnen noch einmal. Fünfundsiebzig Tonnen auf 900 Metern erfolgreich gelandet: Das ist ein Fall für das Guinnesbuch.




Das nächste Kapitel lautet dann schon „eine gewollte Bruchlandung“ und behandelt das Schicksal der Fluggesellschaft Interflug, der durchaus Überlebenschancen eingeräumt wurden.

Doch für Kallbach geht es weiter. Er fliegt für die Germania in einer Boeing 737, stellt sich der notwendigen Prüfungen und lässt sich dabei nicht beeinflussen. In einer solchen Maschine schafft er es dann auch, den Anschlag eines Selbstmordattentäters, nicht ohne eigene Verletzungen, abzuwehren. Auch diesen Vorfall lernte ich erst aus diesem Buch kennen. An die Chefs der Germania: Einen solchen Flieger entlässt man nicht kurz vor dem Ruhestand, nur weil er sich (unautorisiert) für die Arbeitsbedingungen von Cockpit- und Cabincrews öffentlich eingesetzt hat.

Was reizt einen Flieger nach diesen Jahren weiterhin? Rosinenbomber fliegen....

Das ein solcher Mensch bis ins hohe Alter fliegt, bei all dem dafür notwendigen gesundheitlichen Glück, ist klar. In diesem Jahr wird er achtzig. Angekündigt hat er, dies wäre die Zeit, die Fluglizenz abzugeben. 

Was steht da auf dem Schutzumschlag? 

„Die Abenteuer von Kapitän Kallbach reichen für fünf Pilotenleben.“

„In Hollywood würde Dustin Hoffman seine Rolle spielen.“

Ich hätte noch Tom Hanks vorzuschlagen, aber der musste ja schon mal im Potomac landen – was zu Kallbach gepasst hätte.


Ich habe selten ein biografisches / autobiografisches Buch so verschlungen, wie dieses. Ein Geschichtsbuch voller realer Abenteuer in aller Welt. Es ist kein reines autobiografisches Buch, die Mischung aus Biografie mit autobiografischen Teilen von Heinz Dieter Kallbach selbst trägt zu abwechslungsreichem Lesen bei, zumal die Texte auch Spannung aufweisen. Kritische Betrachtungen von geschichtlichen Ereignissen werden sehr sachlich vorgetragen. Kein Hehl macht der Flugkapitän aus der Sache, dass er für eine solche Karriere auch für den Staat einzutreten bereit war, dies aber nicht nur wegen Fliegerei tat.



Der Bücherjunge

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