Samstag, 16. April 2022

Aydemir, Fatma: Dschinns

Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt „Dschinns“ nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus. (Klappentext)
 
 
 
 
 
 
 
 
 
  • Herausgeber ‏ : ‎ Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; 2. Edition (14. Februar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 368 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3446269142
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3446269149
 
 
 
 
Bei dem ganzen Hype um diesen Roman war ich ehrlich gesagt lange unschlüssig, ob ich ihn wirklich lesen wollte. Oft genug schon erging es mir mit solch gehypten Romanen nämlich nicht so gut. Doch als ich bei Lovelybooks eine Leserunde zu diesem Titel entdeckte, bewarb ich mich schließlich doch um ein Exemplar - und erhielt freundlicherweise den Zuschlag. Die Leserunde entpuppte sich als sehr lebendig und diskussionsfreudig, und einige Aspekte wurden mir erst durch die Anmerkungen anderer Teilnehmer deutlich. Aber eigentlich steht und spricht der Roman durchaus für sich selbst. Wie es mir letztlich damit erging, könnt Ihr gerne hier nachlesen:

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

FAMILIE AUF DEM PRÜFSTAND...

Hüseyin, Ümit, Sevda, Peri, Hakan, Emine – eine türkischstämmige Familie. Der Roman spielt Ende der 1990er Jahre und wird in sechs Abschnitten aus der Sicht der einzelnen Familienmitglieder erzählt, wobei zuerst der Vater zu Wort kommt, der dann aber rasch einem Herzinfarkt erliegt und seinen Traum von der Eigentumswohnung in Istanbul nicht mehr erleben kann, und zuletzt die Mutter. Dabei nähert sich die Autorin behutsam und eindringlich den einzelnen Charakteren an und kennzeichnet sie durch eine jeweils eigene Art sich auszudrücken.


„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?“ (S. 189)


Fatma Aydemir stellt hier das Konzept Familie auf den Prüfstand. Was verbindet sechs Menschen, die, wie der Klappentext so schön anmerkt, zufällig miteinander verwandt sind? Wenn wie hier jede:r die eigenen Probleme mit sich selbst ausmacht, lebenslange Geheimnisse das Zusammenleben überschatten und Schweigen die einzig verlässliche Gemeinsamkeit zu sein scheint, dann klingt das schon bedrückend. Tatsächlich hat hier jede:r sein Päckchen zu tragen, und die Autorin lässt dabei kaum einen Aspekt zum Thema Identität aus. Die z.T. doch etwas klischeehafte Ausgestaltung einzelner Figuren sorgt zudem dafür, dass auch gesellschaftliche Missstände deutlich werden.

Die Frage nach der Bedeutung von Heimat, Entwurzelung, Armut, Homosexualität, Sprache, Integration, Zwangsheirat, Verfolgung, der kulturelle Spagat (Kurdisch – Türkisch - Deutsch), die Tradition vs. die Moderne, die Rollenerwartungen und die Schwierigkeit, daraus auszubrechen, vorgezeichnete Wege vs. Lebensträume, das Gefühl, nirgendwo gewollt zu sein und sich trotzdem einen Platz im Leben zu erkämpfen - eine Vielzahl an Themen und Problemen, die sich hier gebündelt darstellen, glücklicherweise ohne die (Selbst-)Mitleidskiste zu öffnen. Nicht alles davon ist allein typisch für Familien mit Migrationshintergrund, es gibt hier durchaus auch allgemeingültige Themen, die alle Menschen/Familien/Gesellschaften betreffen und zum Nachdenken anregen.

Interessant fand ich hier den Buchtitel, der sich auf mehreren Bedeutungsebenen auch im Roman wiederfand. Ein Dschinn kann zum einen so etwas sein wie ein Engel oder ein Teufel, und solch eine Gestalt führt im ersten und letzten Kapitel das Wort. Eine ungewohnte Perspektive, aber für mein Empfinden durchaus passend. Zum anderen bezeichnet der Begriff aber auch moralische Dilemmata, z.B. hinsichtlich sozialer Normen. Diese Bedeutung betrifft wiederum jedes einzelne Familienmitglied, denn gerade der Versuch, eine Identität mit oder entgegen der sozialen Normen zu entwickeln, spielt hier eine große Rolle. Und neben den sehr individuellen Dschinns hat die Familie auch einen gemeinsamen: das Schweigen. Eine Eigenschaft, die so vieles nach sich zieht, dass das Konstrukt Familie letztlich auseinanderbrechen muss.

Das letzte Kapitel sorgte bei mir leider für einen Punktabzug. Auch durch die vorherigen Kapitel wurden schon viele Themen und zahlreiche Dramen präsentiert, viele Dinge angerissen, über die es sich nachzudenken lohnt. Aber im letzten Kapitel wurde es mir dann doch zu viel. Näheres kann ich hier nicht erläutern, da es ansonsten zu viel verraten würde. Aber für mich wirkte das Ende wie zwanghaft in eine Form gepresst, dramatisch konstruiert und nicht wirklich glaubwürdig. Das war eine Handlungsschleife zu viel.

Doch insgesamt ist dies ein beeindruckender Roman mit einem gelungenen Aufbau, einem faszinierenden Schreibstil und einerseits klischeebehafteten, andererseits aber auch glaubwürdig ausgearbeiteten Charakteren. Und mit einem ganzen Strauß an Themen, die über das Lesen hinaus beschäftigen.


© Parden

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman Ellbogen, für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum. Ihr zweiter Roman Dschinns (Hanser, 2022) wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet. (Quelle: Hanser Literaturverlage)
 
 

1 Kommentar:

  1. Heute ist die Longlist des Deutschen Buchpreises veröffentlicht worden - und "Dschinns" ist dort aufgeführt worden. Herzlichen Glückwunsch!

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