Samstag, 24. Juli 2021

Kutscher, Volker: Die Akte Vaterland

DER VIERTE RATH - ROMAN

Da liegt ein Mann in einem Lastenaufzug im Haus Vaterland, dem Vergnügungspalast mit großem Gaststättenbetrieb, der von 1928 bis 1943 am Potsdamer Platz in Berlin zu finden war. Seltsam dabei ist, dass der Mann ertrunken zu sein scheint und wieder nicht. Dr. Schwarz, der Gerichtsmediziner, muss mal wieder ran und die Leserschaft darf wieder darüber staunen, was zu Beginn der dreißiger Jahre kriminalistisch, kriminaltechnisch und in der Rechtsmedizin bereits möglich ist. Im Rahmen der weiteren Untersuchungen stellt sich raus, dass ein durch Lähmung der Atemmuskulatur tötendes Gift namens Curare verwendet wurde. Außerdem erinnert sich Kriminalrat Gennat an einen ähnlichen Fall in Düsseldorf... Ob Gereon Rath, der seiner Charlotte Ritter gerade einen Heiratsantrag gemacht hat, in Ostpreußen weiter kommt? Da muss er nämlich ermitteln, denn das Opfer hat etwas mit einer Schnapssorte zu tun, die in Treuburg (Masuren) hergestellt wird. Und außerdem gepanscht wird, nicht zuletzt für die gerade unter der Prohibition leidenden Amerikaner. Hat das Haus Vaterland damit zu tun?

Selbst dort, im Osten des Deutschen Reiches, den man nach dem 1. Weltkrieg nur durch den „polnischen Korridor“ erreichen kann, zeigt sich immer mehr einen Uniform, die das kommende System repräsentiert: Das Braun der SA, während in Berlin der Polizeipräsident, Albert Grezinski und sein Stellvertreter, Dr. Weiß, ein Jude, aus dem Amt gedrängt werden. Der sogenannte „Preußenschlag“ leitet den Untergang der Weimarer Republik ein. [1]

Derweil fängt Charly, die einige Zeit in Paris studierte, als Kriminalkommissarsanwärterin an, in der „Burg“ zu arbeiten. Natürlich „nur“ bei der weiblichen Kriminalpolizei. Doch schnell wird sie mal wieder an die Inspektion A, die „Mordinspektion“ ausgeliehen. Als verdeckte Ermittlerin heuert sie beim Küchenchef im Haus Vaterland an...

Nur drei Wochen wird sich Gereon Rath in Ostpreußen aufhalten, drei Wochen, in denen der Leser so manches über Preußen, Polen und Masuren, deren Verhältnis zueinander erfährt, während in Berlin der nächste Mord nicht lange auf sich warten lässt. Es sind drei Wochen, die einem vorkommen, als wären es Monate...

* * *

Wieder hören wir Leserinnen und Leser einen historischen Kriminalroman, der uns nicht nur einen spannenden Kriminalfall, sondern auch, wie schon bei den vorherigen vier Fällen des Gereon Rath, ein Abbild der letzten Jahre der Weimarer Republik bietet. Volker Kutscher Hauptfiguren positionieren sich hierbei meist gegen den aufkeimenden Nationalsozialismus, das zeigt sich in den Haltungen von Charlotte „Charly“ Ritter und Kommissar Rath und einigen anderen. Gleichzeitig gibt es Beamte, die vorerst ihre Sympathie für die Nazis noch verstecken müssen. Der Zeitgeist wird deutlich, insbesondere gegen Juden. Beispiel innerhalb der Polizei ist hierfür der stellvertretende Polizeipräsident Weiß. Sowohl Rath als auch Ritter sehen diesen als einen guten Chef und Polizisten an. Er war es, der Weiß den Auftrag gab, einen gewissen Goldstein zu überwachen.

Volker Kutscher versucht in Stil und Form den sprachlichen Zeitgeist einzufangen und wiederzugeben. Daher verwendet er antisemitische Bezeichnungen und Beschimpfungen sowie rassistische Bezeichnung fasst schon beiläufig, wobei die Verwendung allgegenwärtig war. Als „Isidor“ beschimpfte schon Goebbels den Vizepolizeipräsidenten, die Bezeichnung „Itzig“ für einen Juden kommt öfter vor und nicht nur, wenn SA in einer Szene auftritt. 



Während Charly verdeckt im Haus Vaterland ermittelt, lernt sie einen Askari kennen, einen ehemaligen Soldaten aus Deutsch-Südostafrika, der 1929 nach Berlin kam und dem ihm zustehenden Sold einforderte. In Deutschland arbeitete Bayhume Mohamed Husen [2]  als Kellner, Sprachlektor und Schauspieler. Gereon Rath sieht Charly und den „Neger“ eines Tages in einem Restaurant, aber weder Charly noch Gereon lösen dies voreinander auf. Am Beispiel Gereons zeigt Kutscher hier den allgemeinen Rassismus am Vorabend der Machtübernahme und stellt diesem die durch die Bücher Karl Mays verbreitete Sicht auf „Indianer“ entgegen. Rath sucht in Ostpreußen nämlich nach einem in den masurischen Wäldern mit Pfeil und Bogen jagenden Ostpreußen, dessen Lebensweise „indianisch“ sei. In einer dramatischen Situation trifft Rath auf den „Kaubuk“...



Das macht die Romane, deren, wenn auch sehr freie, gekonnte filmische Umsetzung in der Serie Babylon Berlin zum Bekanntheitsgrad sicher beiträgt aus: Spannung bis zuletzt, verschlungene Ermittlungen, sympathische Charaktere und ein interessanter, breiter Blick zurück in die Zeit, als Deutschland beginnt, in ein „tausendjähriges“ Reich zu schlittern. Man sieht es vor sich, das Berlin dieser Jahre, illustriert durch die Serie, Glanz und Flitter, rot und braun, armselig und reich, bunt und schillernd.

Hinzukommt interessante Polizeigeschichte, denn viele der handelnden Personen sind reale Personen, wie der legendäre Ernst Gennat und die bereits genannten Chefs der Berliner Polizei. Gelegentlich tritt auch ein gewisser Konrad Adenauer auf, Gereons Vater, Kriminaldirektor in Köln, ist mit dem dortigen Oberbürgermeister befreundet. 

Trotzdem bildet die „Zeit“ nur die Rahmenhandlung, die Ursachen für die Entmachtung der preußischen Regierung werden höchstes am Rande erwähnt. So bleiben die Leserinnen und Leser am Fall und bei Gereon und Charly... 



Das nächste Buch mit dem Titel Märzgefallene beginnt kurz nach dem Januar 1933. Im März brennt der Reichstag und Rath soll massenweise tatsächliche und vermeintlich Kommunisten vernehmen, einzig und allein damit diese am Wahltag für den Reichstag nicht an die Wahlurne treten können...


Das Gereon Rath- Universum: Der nasse Fisch (2007) / Der stumme Tod (2009) / Goldstein (2010) / Die Akte Vaterland (2014) / Märzgefallene (2014) / Lunapark (2016) / Marlow (2018) / Olymipa (2020) / Transatlantik / Moabit + Mitte mit Kat Menschik / Der nasse Fisch als GN (Arne Jysch)

© Bücherjunge (14.11.22)

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