- Herausgeber : Anaconda Verlag (7. August 2012)
- Sprache : Deutsch
- Übersetzung :
- Gebundene Ausgabe : 144 Seiten
- ISBN-10 : 9783866478671
- ISBN-13 : 978-3866478671
ERSTAUNLICHE EINBLICKE IN TOLSTOIS GEDANKENGUT...
Vor etwa vier Jahren las ich "Kreutzersonate" von Margriet de Moor und stieß dabei auf interessante Zusammenhänge. Bezüglich der "Kreutzersonate" gibt es offenbar einen Dialog über die Jahrhunderte hinweg zwischen Musik auf der einen Seite und Literatur auf der anderen.
Beethoven benannte seine Violinsonate Nr. 9 so, weil er sie einem Violinisten namens Kreutzer gewidmet hatte (1802). Der hat sie dann zwar selbst nie gespielt, doch seither ist sein Name untrennbar mit dieser Sonate verbunden. Lew Tolstoi ließ sich später von diesem Werk inspirieren und schrieb nun seinerseits die Novelle "Kreutzersonate" (1889). Der ungarische Komponist Janácek wiederum beschäftigte sich Jahre später mit Tolstois Werk und schrieb im Alter von 69 Jahren ein Streichquartett mit ebendem Titel "Kreutzersonate" (1923). Einer möglichen Interpretation zufolge könnnten die vier Sätze des Stückes von Janácek verschiedenen Abschnitten der Erzählung Tolstois entsprechen. Und Margriet de Moor hat sich schließlich von Janáceks Werk inspirieren lassen und schrieb ihre Erzählung "Kreutzersonate" in eben dieser Tradition (2002).
Dies aber nur mal nebenher - doch seit der o.g. Lektüre spukte die "Kreutzersonate" von Lew Tolstoi immer wieder durch meinen Kopf, so dass ich jetzt endlich zu der Novelle griff.
Durch die überschaubare Seitenzahl ist es nicht schwer, der Handlung zu folgen, die im Wesentlichen aus Dialogen zu Beginn und später aus einer Erzählung aus der Sicht des ehemaligen Gutsbesitzers Posdnyschew besteht. Die Gespräche entstehen auf einer langen Zugfahrt und drehen sich vor allem um die Liebe und die Ehe - und als Posdnyschew sich einschaltet auch um die damit häufig verbundene Eifersucht.
Der ehemalige Gutsbesitzer hatte in den letzten Jahren ausreichend Zeit, sich Gedanken um diese Themen zu machen - denn nach dem Mord an seiner Frau, von dem er vor Gericht jedoch freigesprochen wurde, da es sich hierbei eindeutig um eine Eifersuchtstat handelte - blieb ihm nicht mehr viel als eben diese seine eigenen Gedanken. Die fünf Kinder aus seiner Ehe leben nicht mehr bei ihm, sondern bei der Schwester seiner von ihm erstochenen Frau. Einsamkeit und Melancholie sind nun Posdnyschews ständige Begleiter, v.a. aber eine sonderbare Erregung mit dem Ziel, andere von den Ergebnissen seiner ständigen Grübeleien und Überlegungen zu überzeugen.
"Bei uns heiraten die Leute, ohne in der Ehe etwas anderes zu sehen als eine Paarung, und das Ende vom Liede ist Betrug oder Gewalttat (...) doch wenn, wie es zumeist der Fall ist, Mann und Frau die äußerliche Verpflichtung übernommen haben, ihr ganzes Leben lang gemeinsam zu leben und schon vom zweiten Monat an einander hassen und den Wunsch hegen, sich zu trennen, und dennoch zusammen weiterleben, dann entsteht jene fürchterliche Hölle, in welcher Trunksucht, Revolver und Gift, Mord und Selbstmord ihre verhängnisvolle Rolle spielen."
Nur zu diesem Zwecke jedenfalls scheint er seinem Gegenüber - einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler - seine Lebensgeschichte zu erzählen. Dieser lässt die so vehement vorgetragenen wie teilweise extremen Ansichten Posdnyschews meist unkommentiert stehen, so dass es nun an dem Leser / der Leserin ist, sich damit selbst ausenanderzusetzen.
Natürlich muss man diese Zeilen im Zusammenhang mit dem historischen Kontext sehen, doch scheinen die hier geäußerten Ansichten selbst für die damalige Zeit teilweise extrem. Dachte ich während des Lesens der Novelle noch an eine Satire oder Überspitzung des Dargestellten, belehrte mich das angehängte Nachwort Tolstois schließlich eines Besseren. Ganz im Stile eines philosophisch-moralischen Essays versucht er dort, die in der Novelle geäußerten frauen- und lustfeindlichen Arugumente als zwangsläufig logisch und unumstößlich herzuleiten. Das hat mich gelinde gesagt verblüfft. Posdnyschew ist demnach im Grunde ein Alter Ego Tolstois. Nur dass der Schriftsteller die von ihm in der Novelle erhobenen Postulate wie Enthaltsamkeit in der Ehe selbst keineswegs lebte - und somit ein perfelktes Bild der Doppelmoral abgab.
Tatsächlich scheinen diverse Vorkommnisse in seiner eigenen Ehe Tolstoi zu eben dieser Novelle veranlasst zu haben. Das Landgut des Ehepaars Tolstoi war häufig Schauplatz heftiger Meinungsverschiedenheiten. Mit der berühmten "Kreutzersonate" verlagerte sich die Kontroverse auf eine literarische Ebene. Lew Tolstoi offenbarte damit eine erschütternde Einstellung der Ehe und den Frauen gegenüber, die Welt sah sich als Zeuge einer persönlichen Abrechnung des Autors mit seiner Ehefrau.
Doch eben diese Ehefrau Sofja Tolstaja konterte mit einer eigenen literarischen Replik ("Eine Frage der Schuld") und rückte das Werk ihres Mannes damit in ein neues Licht. Den Roman zu veröffentlichen, wagte sie zu Lebzeiten jedoch nicht - er wurde 75 Jahre nach ihrem Tod erstmals in Russland veröffentlicht. Auch eine Art, einen Rosenkrieg zu führen...
Ohne Tolstois Gesamtwerk und seine schriftstellerischen Fähigkeiten schmälern zu wollen: diese Novelle hat mich verblüfft und mir ganz erstaunliche Einblicke in sein Gedankengut gewährt. Zumindest ist mir wieder einmal deutlich geworden, dass bei aller Würdigung eines unbestreitbaren Talentes der Mensch dahinter nicht immer dieselbe Würdigung verdient...
Auf den Roman seiner Frau jedoch bin ich jetzt natürlich neugierig geworden. Die Lesekette reißt nicht ab...
© Parden
Jetzt also bist du es, die die Projektideen nicht nur findet und formuliert, du setzt sie auch um.
AntwortenLöschen"Die Kreutzersonate" von Tolstoi ist bereits bestellt. Bei "windlicht" in Stölln.
AntwortenLöschenHimmel, was habe ich da getan? Man(n) muss sich ständig vor Augen halten, dass es sich um das 19. Jahrhundert handelt.
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