Montag, 4. Mai 2020

Borger, Martina: Wir holen alles nach

Job und Kind unter einem Hut – die alleinerziehende Sina jongliert damit seit Jahren. Seit kurzem wird sie von ihrem neuen Partner Torsten dabei unterstützt. Und sie haben Ellen, Ende sechzig, die sich für Nachhaltigkeit einsetzt und das hat, was sich Sinas Sohn Elvis so wünscht: Zeit, Geduld – und einen Hund. Doch dann widerfährt dem sensiblen Jungen etwas Schlimmes. Da er sein Geheimnis nicht preisgibt, spinnt sich ein fatales Netz aus Gerüchten um die kleine Patchworkfamilie. 

  • Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
  • Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (25. März 2020)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257071302
  • ISBN-13: 978-3257071306

 
Die Erzählung hält dem Leser einen Spiegel vor - oft genug muss man sich beim Lesen fragen: wie hätte ich gehandelt, was hätte ich gedacht? Schön war es, diesen Roman im Rahmen einer Leserunde bei Lovelybooks zu lesen und die Eindrücke der anderen Leser*innen mit den eigenen zu vergleichen. Dem Diogenes Verlag danke ich an dieser Stelle für die Bereitstellung eines Leseexemplars!









 LEBENSTHEMEN UND VORURTEILE...





Job und Kind unter einem Hut – die alleinerziehende Sina jongliert damit seit Jahren. Seit kurzem wird sie von ihrem neuen Partner Torsten dabei unterstützt. Und sie haben Ellen, Ende sechzig, die sich für Nachhaltigkeit einsetzt und das hat, was sich Sinas Sohn Elvis so wünscht: Zeit, Geduld – und einen Hund. Doch dann widerfährt dem sensiblen Jungen etwas Schlimmes. Da er sein Geheimnis nicht preisgibt, spinnt sich ein fatales Netz aus Gerüchten um die kleine Patchworkfamilie. 

Bewusst setze ich hier noch einmal den Klappentext voran, der vom Inhalt genug verrät - ja, fast schon zu viel. Denn er deutet in eine Richtung, die mich auf der Hut sein ließ beim Lesen, um eben nicht in die Falle von Gerüchten und Vorurteilen zu tappen, die hier angedeutet wird. Ob das gelungen ist?

Der erste Leseabschnitt dient vor allem als ausgedehnte Einführung. Die Charaktere in ihren jeweiligen Lebensumfeldern schälen sich allmählich heraus, wobei vor allem die beiden Frauen im Zentrum des Geschehens stehen. Die Autorin bringt die jeweilige Lebenssituation durch einen steten Perspektivwechsel zwischen der alleinerziehenden Mutter Sina und der Rentnerin Ellen zum Ausdruck. 

Der achtjährige Elvis erhält dabei keine eigene Perspektive, sondern wird aus der Außensicht von seiner Mutter bzw. von Ellen geschildert, die ihm Nachhilfe erteilt und einen Teil seiner Ferienbetreuung übernimmt. Der Leser erfährt von Elvis allein aus den Beobachtungen und Gedanken der beiden Frauen über ihn. Das beinhaltet natürlich auch eine Interpretationsebene, die im Verlauf noch eine gewichtige Rolle spielt.

Um den Charakteren Tiefe zu verleihen, lässt die Autorin bewusst eine große Anzahl an Themen einfließen, die den Personen ein Profil verleihlt. So lebt die alleinerziehende Mutter Sina mit Anfang 30 in einer  Wohnung in München, die sie sich aufgrund der Staffelmiete kaum noch leisten kann. Ohne großes soziales Netz hat sie Mühe, den Spagat zwischen aufreibendem Beruf ohne feste Arbeitszeiten und dem, was sie in ihrer Rolle als Mutter auch an eigenen Ansprüchen hat, zu schaffen. Geldsorgen, Unzufriedenheit im Beruf, dazu ein neuer Lebenspartner, der als arbeitsloser trockener Alkoholiker, geschieden und Vater zweier eigener Söhne, auch sein eigenes Päckchen zu tragen hat - da kommt einiges zusammen. Sina hangelt  sich oft von Tag zu Tag und bemüht sich, für Elvis stets eine geeignete Betreuungsmöglichkeit zu finden. Nicht immer kann sie dabei Rücksicht darauf nehmen, was ihr Sohn gerne möchte.

Ellen ist mit ihren 68 Jahren noch recht rüstig. Auch ihr sind Geldsorgen nicht unbekannt, und so verdient sie sich zu ihrer bescheidenen Rente durch das Austragen von Zeitungen und durch Nachhilfeunterricht noch ein Zubrot dazu. Auch Elvis lernt sie kennen, als er als Nachhilfeschüler zu ihr kommt. Um die Empfehlung zum Gymnasium zu schaffen, müssen sich die Noten bessern. Die Rückblenden bezeugen, dass Ellen ein reiches Leben geführt hat, erfüllt von Liebe zu ihrem früh verstorbenen Mann und ihren beiden Söhnen, die beide weit weg wohnen. Ein gewisses Maß an Einsamkeit hat sich längst als ständiger Begleiter eingestellt, auch wenn Freunde und vor allem ihr treuer Hund diese immer wieder aufweichen. Aber Gedanken, was sie in ihrem Alter überhaupt noch vom Leben zu erwarten hat, kommen Ellen immer wieder. 

Elvis ist ein ruhiger, oft introvertiert wirkender Junge, der bei Ellen allmählich aufzutauen beginnt, was auch an ihrem Hund liegt. Immer wieder wird deutlich, dass Elvis versucht, auf seine überlastete Mutter Rücksicht zu nehmen und Entscheidungen zu akzeptieren, die ihm teilweise nicht sonderlich gefallen. Sein leiblicher Vater, ein erfolgreicher Anwalt, hält Vereinbarungen oft nicht ein und lässt Elvis stattdessen Geld oder Geschenke zukommen, die das wieder gut machen sollen. Zum neuen Lebenspartner seiner Mutter bekommt der Junge nur langsam Kontakt. Seine Nachhilfelehrerin Ellen lässt Elvis an ihrer Lebenserfahrung und ihren Einstellungen teilhaben. So entwickelt der Junge allmählich ein Umweltbewusstsein sowie ein Gespür für Nachhaltigkeit, was seine Mutter z.T. nervt, weil Elvis sie beispielsweise auffordert, beim Einkaufen eine Stofftasche statt einer Plastiktüte zu verwenden.

Ich schildere die drei Charaktere hier so detailliert, weil genau das auch im Roman geschieht. Zwar habe ich verstanden, dass all diese Details dazu beitragen, das Profil der Personen herauszuarbeiten, doch gab es hier für meinen Geschmack doch zu viele Themen. Dadurch gerät die Erzählung in die Gefahr des Sichverzettelns, weil dabei nicht allen Themen das Gewicht zugestanden werden kann, das diese verdient hätten. Letztlich kann dabei gar eine Botschaft vermittelt werden, die so vermutlich nicht angedacht war. Näher ausführen kann ich das nicht ohne zu spoilern, aber das war ein Faktor, der für mich nicht stimmig war und mich störte.

Das Hauptthema: der Umgang mit vorschnellen Urteilen und Meinungsbildungen ist in jedem Fall ein wichtiges. Die Autorin hält dabei auch dem Leser den Spiegel vor - tatsächlich fragte ich mich während der Lektüre immer wieder, was ich wohl gedacht, wie ich wohl gehandelt hätte. Diesen Denkanstoß fand ich sehr positiv. Auch der Schreibstil hat mir gefallen: leise und unaufgeregt, dabei süffig und bildhaft. Viele Szenen waren von Dialogen geprägt, was der an sich oft handlungsarmen Situation eine angenehme Lebendigkeit gab. 

Alles in allem ein gut zu lesender Roman, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig zu überfrachtet mit den diversen Themen, die dadurch trotz teilweise immenser Bedeutung für einzelne Charaktere schnell achtlos fallen gelassen wurden. Zusammen mit dem etwas konstruiert wirkenden Ende sorgte dieser Kritikpunkt für einen Abzug in der Wertung. Insgesamt bin ich aber neugierig geworden auf weitere Romane der Autorin...


© Parden













Martina Borger, 1956 geboren, arbeitete als Journalistin, Dramaturgin und Filmkritikerin, bevor sie sich aufs Drehbuchschreiben verlegte. Sie hat bei mehreren Serien als Storylinerin und Chefautorin gearbeitet. Gemeinsam mit Maria Elisabeth Straub veröffentlichte sie zwischen 2001 und 2009 Romane unter dem Label ›Borger & Straub‹. Ohne Co-Autorin erschien 2007 ihr Roman ›Lieber Luca‹. Martina Borger lebt in München.


1 Kommentar:

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