TinSoldier
Die Ferien waren vorüber.
Über den Wiesen ließ der Altweibersommer silbrige Spinnfäden im Sonnenlicht segeln und die Getreidefelder, auf denen die Mähdrescher jetzt lärmend ihre Bahnen zogen, lagen unter staubigem Dunst, der dort, wo Himmel und Erde sich scheinbar berührten, blass-bläulich schimmerte und die Horizontlinie verschwimmen ließ. Dabei war es doch eben noch Sommer gewesen. Jetzt aber lag plötzlich der herbe, erdige Geruch des nahenden Herbstes in der Luft: Selbst die Sonne, so eifrig und verschwenderisch sie auch vom blauen Himmel scheinen mochte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, denn ihre Strahlen hatten spürbar an Kraft und Wärme verloren.
So sehr der Herbst sich auch mühte, farbenfrohe Heiterkeit zu verbreiten, es mischte sich doch die sanfte Wehmut des Abschieds unter die Herbstluft, und im herbstlichen Farbrausch reifte für mich bereits ein Apfel am Baum der Erkenntnis, nach dessen Genuss nichts mehr so sein würde, wie es vorher gewesen war. Der Sommer hatte den Geschmack von Brausepulver, Vanilleeis und Himbeerlimonade besessen und den Geruch von Sonnenmilch auf warmer, gebräunter Haut verströmt. Unter die Sommerhitze hatten sich aber fast wie ein Missklang schon unbestimmte Sehnsüchte gemischt, und darin lag für mich so etwas wie die Vorahnung an eine Offenbarung mystischer Geheimnisse aus der Welt der Erwachsenen, welche der Verbannung aus dem Paradies der Kindheit vorangingen.
Schon damals liebte ich den Herbst, besonders wenn er die Sonne in samtweicher Luft golden durch das sich langsam bunt färbende Blätterdach der Bäume blinzeln ließ. Noch heute, nachdem er so viele Male sein Farbenspiel vor mir entfaltete, das in seiner Fröhlichkeit in merkwürdigem Widerspruch zu seiner morbiden Melancholie und zur Vergänglichkeit der herbstlichen Natur steht, welcher doch bereits der modrige Geruch des Verfalls anhaftet, gleite ich manchmal im milden Licht lauer Herbsttage mit geschlossenen Augen wie auf Traumschwingen zurück in wehmutsvolle Erinnerungen: Dann weht leise, wie von jenseits der Zeit, eine altbekannte, zarte Melodie voller Wehmut und Traurigkeit herüber und bringt längst vergessen geglaubte Saiten in mir wieder zum Klingen:
„When I was small, and Christmas trees were tall, We used to love, while others used to play…” *
Und dann sehe ich im Geiste wieder, wie das Herbstlicht sich magisch in deinen strohblonden Haaren fing, fühle wieder die heimliche, aufregende Leidenschaft von damals und verspüre wieder das Lebensgefühl jener Jahre, das durch „Flower-Power“, durch Woodstock und „Make love not war“, durch Janis Joplin, Jimmy Hendrix und Jim Morrison und all die anderen, deren Flammen so hell, aber dafür auch so kurz nur brannten, geprägt war. Und in meiner Erinnerung hat sich all das untrennbar mit der bittersüßen Erfahrung des Erwachsenwerdens verbunden. Damals waren wir so blutjung. Wir wussten noch nichts vom Leben, nichts vom Tod und nichts vom unerbittlichen Lauf der Zeit. Vor uns lag die Zukunft, hinter uns lag: Nichts.
Wir waren. Wir lebten. Wir lernten. Wir fühlten. Wir liebten, rein und unschuldig, wie es nur Kinder können. Das Leben hatte uns noch so viel zu bieten. Wir waren jung und wir waren hungrig nach dem Leben: Die Gegenwart war schön und die Zukunft gehörte uns. Und wir waren stark, wollten die Welt erobern. Und die Flamme in uns brannte und loderte hell:
Auch deine Flamme brannte so leuchtend hell und schön und heiter. Und sie erlosch so verdammt früh: Jener Herbst war dein letzter, den nächsten solltest du nicht mehr erleben. Doch noch bevor deine Flamme für immer verlosch, hast du ein Licht in meinem Herzen angezündet, das noch heute für dich brennt. Und jener goldene letzte Herbst deines kurzen Lebens hat sich wie mit Feuerzungen in mein Hirn gebrannt.
Man sagt, die Toten leben in unserer Erinnerung fort. Ja, so muss es wohl sein und ich möchte daran glauben. Möchte daran glauben, jedes Mal, wenn der Herbst die Welt wieder in sein goldenes Licht taucht, wenn Spinnfäden silbrig durch die Luft tanzen, wenn Astern blühen und buntes Laub die Wege bedeckt und geheimnisvoll unter meinen Füßen raschelt, als würde es leise flüsternd zu mir sprechen. Wenn die Erinnerung wiederkommt und die warmen Strahlen der goldenen Oktobersonne mein Gesicht streicheln, so wie ich einst im Herbst mit Herzklopfen deine Wange streichelte: sanft und mit scheuer Zurückhaltung. Und deine Augen strahlten und du hast gelächelt. Und immer, wenn der Herbst golden übers Land kommt, dann stehst du wieder vor mir und lächelst mich an, und wir halten uns wieder bei den Händen, und meine Augen schwimmen plötzlich in einem See, und die Sonnenstrahlen tanzen im Herbstlicht auf deinem Haar und verzaubern mich und lassen mich die Gegenwart vergessen, während der Herbst traurig und leise sein Abschiedslied für uns singt:
“The apple tree that grew for you and me I watched the apples falling one by one
And I recall the moment of them all
The day I kissed your cheek and you were gone.” *
Und ich stehe und lausche und betrachte mit staunenden Augen die Schönheit der Welt rings um mich herum und ich atme tief die frische Herbstluft und die gleichen goldenen Sonnenstrahlen, die einst dein Haar streichelten, trocknen langsam meine Tränen und ich begreife endlich:
Das geht nie vorbei, denn diese Liebe währt für immer und ewig!
*Songtext "First of may", Bee Gees
© TinSoldier
Manche Deiner Geschichten berühren mich zutiefst - aber das weißt Du ja...
AntwortenLöschenVielen Dank, schön, das von dir zu hören!
LöschenIst der Text neu?
AntwortenLöschenJaja, die Musik der Jugend.
Ein etwas nicht ganz stimmiges, weil etwas anders gemeintes Zitat aus einem Lied:
"Ich hab ein Autoradio, da kann ich hundert Sender reinkriegen,
Doch die Lieder, bei denen ich meine Unschuld verlor,
die kommen in dem Autoradio nicht mehr vor..."
(G. Gundermann)