TinSoldier
zuerst veröffentlicht auf buchgesichter.de
Leporello
Erinnerung an Helmut Reichmann
1000 Meter Stahlseil liegen auf der Wiese und ich beobachte, wie sich das Seil langsam in Bewegung setzt. Links sehe ich den Helfer, die Linke hoch in die Luft gereckt, mit der Rechten das Tragwerk haltend. Schon bewegt sich das Vorseil mit dem Seilschirm, das zuvor in einer langen Schlaufe da lag, und strafft sich. Noch einmal nicke ich dem Helfer zu und schaue dann konzentriert geradeaus. Als das Seil straff gespannt ist, kommt der plötzliche Ruck, auf den ich gewartet habe und der mich in die Sitzschale presst. Mein Segelflugzeug, das auf dem Landerad holpert, wird stark beschleunigt. Längst hat der Helfer die Tragfläche losgelassen. Ich halte das Flugzeug mit den Seitenruderpedalen in der Spur und kontrolliere die Querlage mit dem Querruder, an dem jetzt schon die Luftströmung anliegt und ihm Wirkung verleiht.
In 3 Sekunden von 0 auf ca. 100 km/h. Da hast du auch nach mehr als zweihundert Starts noch ein Kribbeln im Bauch wie in der Achterbahn!
Nach etwa 20 Metern wird der Flieger „weich“, ich ziehe sacht am Knüppel und schon bin ich in der Luft. Frei!
Die ersten Meter steige ich ganz sanft und flach, sehe durch die Plexiglashaube den Boden 5, dann 10 Meter unter mir. Ich blicke kurz auf den Fahrtanzeiger, kontrolliere meine „Fahrt“, wie man die Geschwindigkeit in der Fliegerei nennt. Die liegt bei 90 km/h und damit auf der sicheren Seite. Sanft lasse ich das Flugzeug am Seil weiter steigen, nicht zu stark, denn wenn jetzt das Drahtseil reißen würde, dann wäre ein Absturz unvermeidlich, würde die Flugzeugnase zu steil nach oben zeigen. Über Funk bin ich mit dem Startwindenfahrer verbunden und gebe ihm meine Fahrt durch, damit er den Start kontrollieren kann, denn werde ich zu langsam, riskiere ich einen Strömungsabriss und werde ich zu schnell, eine Überlastung der Flugzeugstruktur. Beides wäre fatal.
„90, 95, 100 km/h, alles ok“, gebe ich durch.
Erneut ein kurzer Blick auf den Fahrtmesser, dann auf den Höhenmesser: 40, jetzt 50 Meter, Sicherheitshöhe! Ab jetzt kann ich stärker steigen, ziehe also den Steuerknüppel weiter zum Bauch. Nun geht es so steil nach oben, dass ich aus der Kanzel weder den Horizont noch seitlich den Boden sehen kann. Also steuere ich meine Querlage nach Gefühl und kontrolliere ständig meine Fahrt und die Höhe. 150, dann 200 Meter. Ich steige weiter, 250, 280 Meter.Ab jetzt spüre ich, wie das Stahlseil die Flugzeugnase nach unter ziehen will. Ich nähere mich also der Startwinde, die ich natürlich nach wie vor nicht sehen kann. Gleichzeitig werde ich schneller und das Geräusch des Fahrtwindes nimmt zu. Bald muss ich das Drahtseil ausklinken, aber jetzt noch nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass ich noch gut 20 Meter Höhe „mitnehmen“ kann und beobachte den Höhenmesser. 290, 300, 310 Meter. Jetzt!
Ich ziehe den Ausklinkknopf vorschriftsmäßig dreimal hintereinander und melde über Funk: „Ausgeklinkt“
Für einen Moment bin ich nahezu schwerelos, weil ich nach dem Ausklinken den restlichen Fahrtüberschuss rasch in Höhe umsetze und dann den Steuerknüppel stark nach vorn drücke, um das Flugzeug in Horizontallage zu bringen. Schon sehe ich den Horizont voraus und trimme das Flugzeug im Geradeausflug so, dass es mit ca. 70 km/h geradeaus fliegt, wenn ich den Knüppel loslasse. Ich halte den Knüppel mit Links, während ich mit der anderen Hand das Landerad einfahre. Nun ist es an der Zeit, mit einem Blick nach draußen meine Fluglage und Position zu bestimmen: Im Moment befinde ich mich ziemlich genau über der Startwinde. Etwa 3 bis 4 Sekunden fliege ich noch geradeaus und leite dann mit Quer- und Seitenruder eine Linkskurve ein, die ich nach exakt 90 Grad beende, während ich mit der Linken mein Variometer auf Akustikbetrieb schalte. Es wird mir ab nun zuverlässig signalisieren, ob ich sinke oder steige und ist mir damit eine Hilfe bei der Thermiksuche.Ein Blick auf den Höhenmesser sagt mir, dass ich 300 Meter hoch über dem Flugplatz bin. Nach einer erneuten 90-Grad Linkskurve befinde ich mich im Gegenanflug der Platzrunde und beginne mit der Suche nach Thermik. Ich visiere eine Kumuluswolke an, die ich rechts über mir in einiger Entfernung sehe und steuere darauf zu. Zu weit darf ich mich nicht vom Platz entfernen, wenn ich keine Außenlandung riskieren will. Aber diese Kumuluswolke ist in Reichweite. Ich sehe mehrere Greifvögel, im Fliegerjargon „Geier“ genannt, ohne einen Flügelschlag unter der Wolke kreisen: Nichts wie hin, dort steht ein „Bart“!
Ein „Bart“ ist nichts anderes als ein Thermikschlauch, ein riesiger Staubsauger, in dem wie in einer Windhose Warmluft vom Boden bis in Wolkenhöhe aufsteigt. Ich beobachte mein Vario, während ich auf die Wolke zufliege. Zunächst steht der Zeiger auf „Sinken“, doch dann kommt ein kurzer Ausschlag bis nach oben. Ohne Überraschung beobachte ich, dass der Zeiger kurz darauf wieder ins Minus wandert. Ich halte das Flugzeug gerade und drücke den Knüppel nach vorn. Das Fluszeug senkt die Nase und wird schneller. Da! Mit einem Satz springt der Zeiger des Varios nach oben und das bis dahin gelangweilte „diiiiiiiiiehhhhh --- düüüüüüüüüühhhh---diiiiiiiiiiiiiiiieeh---düüüüüüüüüüüüüüüühhh des akkustischen Variometers wechselt in ein hektisches „didü-didü-didü“. Die Nadel liegt kurz am Anschlag: 6 Meter steigen pro Sekunden, und sinkt dann auf 4 Meter pro Sekunde, wo sie bleibt. Ich ziehe das Flugzeug in eine steile Linkskurve und spüre das starke Steigen jetzt auch im Hintern, denn mein Hinterteil wird durch die Vertikalbeschleunigung in den Sitz gepresst. Zwei Kreise brauche ich, um den Bart zu zentrieren und kreise dann mit minimalen Ruderausschlägen im Aufwind, während ich am Höhenmesser meinen Höhengewinn verfolgen kann. 600, 700 Meter und immer weiter geht es nach oben.
Im Cockpit ist es still, nur mein Vario signalisiert mir hektisch den Aufwind. Ich stelle es leiser und genieße den Flug und den Ausblick: Unter mir eine sommerliche Modelleisenbahn-landschaft, um mich herum blauer Himmel, und über mir eine schneeweiße Schäfchenwolke. Ich bin allein. Allein mit mir und meinen Gedanken. Allein mit einem niemals enden wollenden Hochgefühl. Mein Herz schlägt vor Freude Purzelbäume. Ich fliege!
Für die Dauer eines solchen Fluges lasse ich meine Sorgen auf der Erde zurück. Hier oben gibt es nur mich und die Elemente. Für kurze Zeit bin ich frei!
Etwa 100 Meter unter mir sehe ich ein zweites Segelflugzeug und ich schaue von oben in sein Cockpit. Ich lächle vor Seligkeit, während ich weiter meine Kreise ziehe und tief unter mir Menschen nach oben sehen und sich fragen: „Wie mag es da oben wohl sein?!“
In 1200 Metern Höhe erreiche ich die Basis der Wolke und fliege aus dem Bart, um nicht in die neblige Waschküche der Wolke, die aus der Nähe nicht mehr weiß sondern dunkelgrau wirkt, hineingezogen zu werden. Dies wäre zu gefährlich.
Genüsslich fliege ich in den nächsten Minuten meine Höhe ab und nähere mich dem Flugplatz wieder an. In 150 Metern Höhe wird es Zeit, an die Landung zu denken. Vorschriftsmäßig teile ich mir die Platzrunde in Gegenanflug und Queranflug ein und fahre das Landerad aus. Dann kommt mein Landecheck: Fahrwerk: ausgefahren. Höhe: 130 Meter. Fahrt: 90. Luftraum: frei! Landebahn: frei! Sicherheitsgurte: nachgezurrt!
Rechtzeitig drehe ich in etwa 100 Metern Höhe in die Landekurve ein und fliege ab da geradeaus auf die Landebahn zu. Ständig kontrolliere ich meine Fahrt, denn Fahrt ist „das halbe Leben“ sagt der Flieger. In ca. 30 Metern Höhe überfliege ich die Platzgrenze und ziehe die Landeklappen. Ständig darauf achtend, dass meine Fahrt ca. 80 km/h, besser 90 km/h nicht unterschreitet, dirigiere ich das Flugzeug mit sparsamen Ruderausschlägen zu Boden. Kurz vor dem Aufsetzen mit rund 60 bis 70 km/h fange ich das Flugzeug in ca. 1 Meter Höhe über dem Landefeld ab, indem ich sachte am Knüppel ziehe, ohne jedoch das Flugzeug wieder steigen zu lassen. So warte ich einfach ab, bis sich der Vogel sanft ins Gras setzt und ausrollt. Ich verkürze die Rollstrecke mit der Radbremse und halte die Tragflächen waagerecht, bis der Flieger steht. Dann kippt das Flugzeug langsam zu einer Seite. Ein paar Sekunden sitze ich mit geschlossenen Augen im Cockpit, bevor ich die Haube öffne und die Anschnallgurte mit einem Griff an die Zentralverriegelung löse.
Die Erde hat mich wieder und ich steige aus dem Segelflugzeug, während mein Freund Leporello, eine Staubwolke hinter sich herziehend, an mir vorbeifährt, 2 Stahlseile im Schlepptau.
Im Cockpit ist es still, nur mein Vario signalisiert mir hektisch den Aufwind. Ich stelle es leiser und genieße den Flug und den Ausblick: Unter mir eine sommerliche Modelleisenbahn-landschaft, um mich herum blauer Himmel, und über mir eine schneeweiße Schäfchenwolke. Ich bin allein. Allein mit mir und meinen Gedanken. Allein mit einem niemals enden wollenden Hochgefühl. Mein Herz schlägt vor Freude Purzelbäume. Ich fliege!
Für die Dauer eines solchen Fluges lasse ich meine Sorgen auf der Erde zurück. Hier oben gibt es nur mich und die Elemente. Für kurze Zeit bin ich frei!
Etwa 100 Meter unter mir sehe ich ein zweites Segelflugzeug und ich schaue von oben in sein Cockpit. Ich lächle vor Seligkeit, während ich weiter meine Kreise ziehe und tief unter mir Menschen nach oben sehen und sich fragen: „Wie mag es da oben wohl sein?!“
In 1200 Metern Höhe erreiche ich die Basis der Wolke und fliege aus dem Bart, um nicht in die neblige Waschküche der Wolke, die aus der Nähe nicht mehr weiß sondern dunkelgrau wirkt, hineingezogen zu werden. Dies wäre zu gefährlich.
Genüsslich fliege ich in den nächsten Minuten meine Höhe ab und nähere mich dem Flugplatz wieder an. In 150 Metern Höhe wird es Zeit, an die Landung zu denken. Vorschriftsmäßig teile ich mir die Platzrunde in Gegenanflug und Queranflug ein und fahre das Landerad aus. Dann kommt mein Landecheck: Fahrwerk: ausgefahren. Höhe: 130 Meter. Fahrt: 90. Luftraum: frei! Landebahn: frei! Sicherheitsgurte: nachgezurrt!
Rechtzeitig drehe ich in etwa 100 Metern Höhe in die Landekurve ein und fliege ab da geradeaus auf die Landebahn zu. Ständig kontrolliere ich meine Fahrt, denn Fahrt ist „das halbe Leben“ sagt der Flieger. In ca. 30 Metern Höhe überfliege ich die Platzgrenze und ziehe die Landeklappen. Ständig darauf achtend, dass meine Fahrt ca. 80 km/h, besser 90 km/h nicht unterschreitet, dirigiere ich das Flugzeug mit sparsamen Ruderausschlägen zu Boden. Kurz vor dem Aufsetzen mit rund 60 bis 70 km/h fange ich das Flugzeug in ca. 1 Meter Höhe über dem Landefeld ab, indem ich sachte am Knüppel ziehe, ohne jedoch das Flugzeug wieder steigen zu lassen. So warte ich einfach ab, bis sich der Vogel sanft ins Gras setzt und ausrollt. Ich verkürze die Rollstrecke mit der Radbremse und halte die Tragflächen waagerecht, bis der Flieger steht. Dann kippt das Flugzeug langsam zu einer Seite. Ein paar Sekunden sitze ich mit geschlossenen Augen im Cockpit, bevor ich die Haube öffne und die Anschnallgurte mit einem Griff an die Zentralverriegelung löse.
Die Erde hat mich wieder und ich steige aus dem Segelflugzeug, während mein Freund Leporello, eine Staubwolke hinter sich herziehend, an mir vorbeifährt, 2 Stahlseile im Schlepptau.
Ach ja, wer oder was ist denn nun eigentlich dieser Leporello?
Dann frag mal einen alten Segelflieger:
Der wird dir sagen, das der gute alte Leporello, kurz auch Lepo genannt, ein wichtiger Helfer und auf fast jedem Flugplatz zu finden ist. Jeder Segelflieger kennt und schätzt ihn. Seinen Namen liest du aber am besten von hinten nach vorn!
*
„Dem Segelflieger offenbart die Natur eine Welt, die noch vor wenigen Jahrzehnten unerreichbar schien. Eine Welt gewaltiger Kräfte, sanft oder wild, großartig und geheimnisvoll. Er verbündet sich mit ihr, fliegt in ihr, versucht sie zu ergründen und ihre Dynamik zu nutzen. Die Last des Alltäglichen bleibt weit unten zurück, erscheint klein und unbedeutend, die Flügel machen frei.“
Helmut Reichmann
Helmut Reichmann war u.a. dreifacher Weltmeister im Segelflug, Buchautor und Trainer der dt. Segelflugnationalmannschaft von 1973 bis 1992.
Helmut Reichmann fand am 10. März 1992 in den südfranzösischen Alpen bei einem tragischen Unfall den Fliegertod.
Ruhe in Frieden!
Segelfliegen
von Helmut Reichmann
© TinSoldier
habe Helmut Reichmann als äußerst charismatischen aber straighten Professor kennen und schätzen gelernt. Er hat mich im entscheidenten Moment auf den Weg gebracht. So bin ich ihm post hum zu besonderem Dank verpflichtet.
AntwortenLöschenSeine draufgängerische - schon vielleicht kindliche ART - naiv stimmt da gar nicht - hat mich sehr beeinflusst; aber auch seinen Unfallpartner letztlich das Leben gekostet.
Das ist nun alles schon so lange her, dass es mich wundert überhaupt noch eine relativ aktuelle Post zu finden.
Respekt verdient auch seine damalige Frau, die ricklings auf dem von Helmut entworfenen Tandem mit ihm durch Saarbrücken radeln durfte.
liebe Grüsse, in tiefer Verbundenheit
Lieber Anonym,
Löschenich danke dir sehr für deinen Kommentar. Ich habe Helmut Reichmann persönlich nicht gekannt, aber als Flugschüler seine Bücher "verschlungen" und war über seinen Unfalltod sehr bestürzt. Es war ungefähr zu dieser Zeit, als ich an der Flugschule in Oerlinghausen bei Bielefeld den mehrmaligen Segelflugweltmeister Ingo Renner kennelernen und einige Schulflüge mit ihm absolvieren durfte.
Helmut Reichmann war (offenbar nicht nur) im Segelflusport eine herausragende Persönlichkeit!
Nochmals danke für deine Rückmeldung zu meinem Beitrag!
Herzliche Grüße
TinSoldier
Hallo, würde mich interessieren warum Reichmann's Art seinem Unfallpartner das Leben gekostet hat. Ist er am Unfall schuld?
AntwortenLöschenGrüße
Hallo lieber Anonymus,
Löschenvielen Dank für Dein Interesse. Helmut Reichmann war ein hervorragender Segelflieger, aber er galt auch als unbekümmert und war manchmal wohl auch ein fliegerischer Draufgänger. Den genauen Unfallhergang kenne ich leider auch nicht, aber es steht fest, dass sein Segelflugzeug in der Luft mit einem anderen Segelflieger kollidierte. Beide stürzten tödlich über den französischen Alpen ab. Es scheint so, als habe Reichmann den Unfall durch versehentliches zu dichtes Heranfliegen an das andere Flugzeug (mit) herbeigeführt.