Mittwoch, 12. Oktober 2022

Kuegler, Dietmar: Walk the Line...

 ... Dyess Colony - Die Heimat von Johnny Cash

Vor zwei Wochen verstarb 91jährig die Country-Ikone Loretta Lynn. Litterae-Artesque veröffentlichte dazu einen kleinen Nachruf. The Coal Miner´s Daughter entstammte einer Bergarbeiterfamilie, was in dem Film Nashville Lady eindrucksvoll zur Geltung kam. Außerdem erinnerte die Geschichte an die Hillbilly-Elegie von J.D. Vance. Das ich aber überhaupt darauf aufmerksam wurde, ist dem Post von Dietmar Kuegler zu verdanken und mit ihm entspann sich eine kurze ergiebige Diskussion zu den Wurzeln der Country-Musik.

Während wir zuerst über die Hillbilly sprachen und die erstaunliche Hinwendung des Autors Vance nicht nur zu den Republikanern, sondern ebenso über dessen eigene Bewerbung um einen Sitz im Senat mit Unterstützung des Trump-Umfeldes, tauchte so am Diskussionsfirmanent der vermutlich bekannteste Country-Sänger Johnny Cash auf. Kuegler erwähnte im Zusammenhang mit den Hillbilly-Wurzeln das Heft 54 der Country Ideals mit dem Titel Walk the Line. Dyess Colony: Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Nun liegt es vor mir. Walk the Line, das war der Titel des Musikfilm über J. Cash.


Inhalt. Nein, es ist keine Biografie von Johnny Cash. Dietmar Kuegler erzählt natürlich die Geschichte der Familie Cash, die durch den sogenannten New Deal der Administration Roosevelt eine neue Chance bekommt, konnten sie ihre bisherige Farm in Folge der Weltwirtschaftskrise nicht halten.

Von was für Menschen erzählt der Autor hier? Ray und Carrie Cash zählen mit ihren fünf Kindern zu den Farmer- und Arbeiterfamilien, deren Leben in harter Arbeit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang besteht. Wenn sie irgendwie Anschluss an die große weite Welt haben, dann besteht die in einem mühsam zusammengesparten Radio. Ansonsten haben sie eins: Die Musik. Das, was man später Country-Music nennt, spiegelt die Kultur dieser Gruppe wieder, Kuegler bezeichnet sie als die amerikanische Seele, die Keimzelle amerikanischer Identität.

Die Musik ist geprägt vom Banjo, dass aus Afrika mit nach Übersee gebracht wurde, die Fidel kam aus Europa, Klavier und Gitarre ergänzten das Ensemble. 

„Sie sangen und spielten nach der Arbeit. Sie trafen sich an den Sonntagen in ihren kleinen Kirchen und Gemeindehäusern in Siedlungen im Hinterwald und in abgelegenen Berg- und Präriegebieten und sangen aus tiefster Inbrunst. Sie sangen auf den Flatboats, Kielbooten und Schaufelradsteamern, die auf den großen Strömen in die westliche Wildnis fuhren. Sie sangen, spielten und tanzten an den Lagerfeuern der Planwagentrecks auf dem Oregon Trail. Musik war ihre Befreiung von der täglichen Mühsal, von Angst und Elend. Musik war der Schlüssel für ein kleines Glück, machte den Kampf ums Dasein erträglich, spendete neue Kraft. 

Sie sangen zunächst Lieder ihrer Kindheit, Lieder ihrer Herkunftsländer, Lieder der unterschiedlichsten Kulturkreise. Die französischen Voyageurs sangen anders als die schottischen Pelzhändler und die amerikanischen Mountain Men und Trapper. Die deutschen Siedler in Texas sangen anders als die osteuropäischen Arbeiter in den Kohlenminen. Die irischen Schwellenleger der Union Pacific hatten andere Lieder als die Cajuns im Mississippi-Delta. 

Alles das - und viel mehr, als man in so einer Beschreibung aufzählen kann - verschmolz zum gemeinsamen Ausdruck einer neuen Kultur, einer neuen nationalen Identität. Die Elemente blieben erhalten, aber die Vermischung brachte eine eigene Kunst und Lebensform hervor. Eine Reflektion des amerikanischen Nationalmythos.“ (Seite 5)

Mit diesem langen Zitat sei alles gesagt, denn hier drückt der Autor bereits im Vorwort aus, was die Kultur prägte. Diese Musik, die im Laufe der Jahrzehnte sicherlich auch ins Schlagerhafte driftete, bleibt dabei Teil der amerikanischen Identität.


In Arkansas wurde die Dyess – Kolonie errichtet. Dieses Projekt sollte Farmern, die unverschuldet in den Ruin gingen, einen Neuanfang ermöglichen. Sie waren ausgewählt, mussten einen Fragebogen ausfüllen und bekamen dann, wenn sie Glück hatten, eine Parzelle. Ray Cash bekam 1935 die Parzelle 266 und konnte sie ein paar Jahre später um das Nachbargrundstück erweitern.

Die Kriterien, nach denen die Kolonisten ausgewählt wurden, waren:

  • Es musste sich um erfahrene Farmer handeln, die ohne eigene Schuld in Not geraten waren. Ausschließlich Familien, keine Einzelpersonen.
  • Sie sollten Bürger des Staates Arkansas sein.
  • Es wurde ein „guter moralischer Hintergrund" erwartet, dazu gute Gesundheit, bei einem Alter von unter 50 Jahren.
  • Zugelassen waren nur weiße Farmer. (In jenen Jahren war „Segregation" (Rassentrennung) in den Südstaaten gesellschaftlicher Standard.) 

Jede Farm wurde in eigener Verantwortung geführt; die Bewirtschaftung aber war vergemeinschaftet. Die jeweilige Größe lag zwischen 20 und 40 Acres, je nach Bodenbeschaffenheit, um jeder Familie die gleiche Chance zugeben. (Seite 27)

Johnny Cash sang dazu in Pikin´ Time:



        
         Johnny Cash: Pikin´ Time        


Der Erfinder des Projekts war ein gewisser William Reynolds Dyess, nachdem der Ort dann auch benannt wurde. Roosevelt schaffte es, mit dem New Deal die USA aus der Depression heraus zu führen. Allerdings konnten sich die US-Amerikaner für solche „sozialistischen Projekte“ nicht erwärmen. Liest man von dieser Kolonie, hat man schon das Gefühl von einem Kibbuz oder einer LPG Typ Eins zu lesen. Die LPG Typ Eins war die erste Form einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in der DDR nach der Bodenreform. Jeder bewirtschaftete seinen Hof und sein Land, Maschinen und Saatgut gab es zentral. Der Vergleich hinkt, denn die ausgewählten Farmer mussten ja dafür zahlen. 

„Für die Farmer war es die absolute Rettung“, schrieb mir Dietmar Kuegler und fügte hinzu:

„Roosevelt versuchte damals, das Element der individuellen Solidarität zu wecken. Das ist ihm letztlich auch nicht gelungen. Aber im Ansatz hat es zunächst mal funktioniert. Die Farmer waren aufeinander angewiesen. Die Vermarktungsform von Dyess und anderen ähnlichen Kolonien war gemeinwirtschaftlich. Das hat aber schon damals vielen politischen Führern nicht gepasst. Mit Beginn des 2. Weltkriegs änderte sich alles wieder, und die USA entwickelten sich rückwärts, nicht nur, was gemeinschaftliche, solidarische Wirtschaftsführung anging, sondern auch im Hinblick auf Versicherungen. Genaugenommen hat es seit dieser Zeit keine allgemeine Renten- oder Krankenversicherungsreform gegeben, bis Obama-Care kam.

Das Motto in den USA ist bis heute „jeder für sich selbst“. Tatsächlich ist jeder Versuch, eine Gesellschaftsreform wie in Europa anzustreben, in den Augen der meisten „Kommunismus“. Verweise auf die Rooseveltschen Reformen will keiner mehr hören.“ (Chat mit Autor)

 

Die Kolonie blühte auf aber das Experiment verpuffte, denn als die USA in den 2. Weltkrieg eintraten, suchten sich viele besser bezahlte Jobs in der Kriegsindustrie. Inzwischen ist das Farmer-Haus der Familie Cash eine Art Museum. Nur noch wenige Menschen leben in diesem Landstrich und das Einkommen ist wieder einmal unterhalb der Armutsgrenze. Sind sie wieder zu „Hillbillys“, als „die da unten“ geworden, auf die das erfolgreichere Amerika herab blickt?

Das die Geschichte erlebbar bleibt, dafür sogt zum Glück z.B. die Universität von Arkansas, sie bewahrt die Geschichte mit dem Johnny Cash Haus im Mittelpunkt. Ohne ihn wäre diese Geschichte vielleicht im Nebel versunken, die Parzellen leer...

* * *

Das Buch Das schmale Heft scheint aktueller denn je, Amerika lebt von der Kriegsproduktion, soziale Maßnahmen, wie Krankenversicherung im umfassenderen Sinn werden insbesondere durch die Republikaner verhindert. An Roosevelt mag man nicht erinnert werden.

Barack Obama schrieb in „Ein verheißenes Land“, seiner Autobiografie

„Wenn man den Wohlstand verteilt trägt man von jeher dazu bei, mehr Menschen die Möglichkeit eines besseren Lebens zu eröffnen.“  

Antwort des eigenen Wahlkampf-Kommunikationschefs: „So eine Aussage kommt bei den Wählern nicht gut an. Die Menschen assoziieren damit Kommunismus und alles Schlechte.“ 

(Barack Obama: Ein verheißenes Land, Seite 281)

Stimmt es also, wenn Obama an anderer Stelle ausführt:

„...ein Blick in die amerikanische Geschichte und schon ein flüchtiger Blick auf die Schlagzeilen von heute zeigen, dass die Ideale dieser Nation schon immer an zweiter Stelle standen. Hinter Eroberung und Unterdrückung, einem rassistischem Kastensystem und Raubtierkapitalismus.“ (Seite 14)

Es ist ein nicht unerheblicher Wert unserer Demokratie, dass solche Dinge gesagt werden dürfen. Sie müssen gesagt werden. Das ein wenig zu ändern, dafür trat Obama an und Roosevelt wird von ihm mehrfach erwähnt.

Das man mit der Lektüre eines schmalen gedrucktes Heftes über die „ökonomischen Ursprünge“ der Country-Musik so weit in Geschichte und zurück in die Gegenwart blicken kann, macht es für mich zu einer tollen Ergänzung zum Beispiel der Obama-Biografie oder des hervorragenden Buches Diese Wahrheiten von Jill Lepore. Oder Die Geschichte des amerikanischen Volkes von Howard Zinn, in dem die Lebensumstände der arbeitenden Menschen in den USA in der Zeit des New Deal ausführlich beschrieben werden. Ich empfinde dies keineswegs übertrieben.


* * *


Autor. Der 1951 geborene Dietmar Kuegler ist der Verleger des Magazins für Amerikanistik, welches es seit 1976 gibt. Die Geschichte Nordamerikas wird in diesem wird wesentlich auch durch Geschichte der Besiedlung des Westens und der Geschichte der Native Americans in vielfältigen Artikeln erzählt. Selbst hat Dietmar Kügler eine Menge eigener Publikationen heraus gebracht. Auf Litterae-Artesque wurde bisher Ich ziehe mit den Adlern- Kit Carson, ein amerikanischer Held besprochen

Das hier besprochene Buch zeigt, dass wir es nicht nur mit einem begeisterten „Westman“ zu tun haben, der auch an Reenactments teilnimmt, wenn es passt, sondern jemanden, der amerikanische Geschichte durchaus differenziert zu betrachten weiß.. 

Erwähnt werden könnte dann noch, dass Dietmar Kuegler zweimal im Jahr ziemlich individuelle Reisen durch die USA anbietet.


Damit würde ich zum Schluss gern noch einmal auf Loretta Lynn zurück kommen, deren Lied symptomatisch ist, für das was Country-Music ausdrückt und insofern auch für Johnny Cash gelten kann: 


Texte über Lyric Find / Songtexte.com




Sissy Spacek als Loretta Lynn in Nashville Lady

Mit diesem Liedtext möchte ich noch einmal verdeutlichen, warum die Country-Musik die Musik der "kleinen" Leute ist. Wenn Walk the Line den Lebensweg des Johnny Cash zeigt, so zeigt Nashville Lady die Wurzeln der Musik und der Sängerinnen und Sänger auf eindrucksvolle Weise.

  • DNB / Verlag für Amerikanistik, Country Ideals / 2021 / ISBN: 978-3-89510-139-7 / 64 Seiten


© Bücherjunge



3 Kommentare:

  1. Herzlichen Dank für diese umfassenden, nachdenkenswerten Worte. Normalerweise halte ich es nicht für angebracht, als Autor eines Buches Rezensionen zu kommentieren. Die Beurteilung einer Veröffentlichung obliegt dem Leser und dem Rezensenten; der Autor sollte das akzeptieren und - wenn möglich - Schlüsse daraus ziehen. In diesem Fall breche ich meine Prinzipien und drücke dem Rezensenten meinen Respekt aus. Er hat den Kern dieses kleinen Büchleins hervorragend herausgearbeitet und auf den Punkt gebracht. Country Music hat viele Fans in Europa, aber nur sehr wenige kennen die Hintergründe, weil die Bildung der amerikanischen Mentalität, die Wurzeln amerikanischer Weltsicht, die gesamte amerikanische Nationalerfahrung den meisten Europäern fremd ist. Diese Musik ist nicht nur "leichte Unterhaltung", sie ist einer Lebenshaltung entsprungen, die unbewusst aber nachhaltig die amerikanische Selbstreflektion präsentiert. Man kann Reste dieser Welt noch heute in abgelegenen, von materiellem Verzicht geprägten Gegenden antreffen, wenn man kleine Dörfer in West-Virginia, Kentucky, Tennessee, Missouri, u. a. besucht.
    Die Kolonien der armen Farmer in den 1930er Jahren sind durchaus mit LPGs oder Kibbuz vergleichbar, wenn sie auch keine dauerhafte Wirkung entfaltet haben. Aber sie zeigen, was möglich war. Und sie haben in ihrer Zeit funktioniert und hätten langfristig vielleicht sogar eine Umwälzung der sozialen Struktur veranlassen können. Aber letztlich waren die seit Kolonialzeiten und puritanischen Grundlagen entstandenen sozialen Sichtweisen stärker. Nochmals herzlichen Dank für die kluge Skizzierung meines Essays. Meine Absicht war es, die Hintergründe der traditionellen Country Music, wie sie von Johnny Cash, Loretta Lynn, Charlie Pride und anderen Vertretern dieser Musikrichtung in die Welt getragen wurden, durchschaubarer zu machen. Das hat Uwe Rennicke ausgezeichnet umrissen.

    Dietmar Kuegler

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    1. Solche Rezensionen zu verfassen macht besonders Spaß, wenn die Möglichkeit besteht, sich mit dem Autor oder der Autorin unmittelbar auszutauschen. Dabei freut es den Blogger natürlich, wenn seine Sicht auf bestimmte Dinge, die nicht zu seinem Fachgebiet gehören, bestätigt wird.
      Hier treffen musisches und historisches Interesse aufeinander.
      Das ist sicher nicht das letzte Mal, dass wir uns literarisch begegnen und vielleicht auch mal auf einer Ihrer Reisen, Herr Kuegler.

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  2. Leider wird es dazu nun nicht mehr kommen, ich meine, zu einer gemeinsamen Reise mit Dietmar Kuegler auf Spuren amerikanischer Geschichte. Am 03. Dezember ist Herr Kuegler leider plötzlich verstorben. Wir kannten uns nicht persönlich, aber das Thema "Indianer" führte regelmäßig dazu, dass wir uns meist über einen Messenger austauschten. Gelegentlich sendete er mit längere Texte mit Vorträgen oder Artikel-Auszügen. Sehr dankbar war ich für die ausführlichen Antworten dort.
    Ruhe in Frieden schreibt man oft in diesem Fall.
    Das letzte Magazin für Amerikanistik bekommt nun einen Ehrenplatz.

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