NICHTS FÜR UNGEDULDIGE...
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Zufriedener Kunstbanause - das war der Ausdruck im Klappentext, der mich einfing. Denn, ehrlich gesagt, als solchen sehe ich mich durchaus auch. Und wenn der Ich-Erzähler durch seinen Freund vom Gegenteil überzeugt werden kann, weshalb nicht auch ich? Und der Biedermeier-Maler Carl Spitzweg, immerhin, sagt mir etwas, als Vielleserin sind mir vor allem seine Werke "Der Bücherwurm" sowie "Der arme Poet" ein Begriff. Denen begegnet man hier im Roman jedoch nicht.
Vordergründig geht es um drei Abiturient:innen, die hier ihr kleines Abenteuer erleben und damit die Erzählung zu einem Bildungsroman machen. Ich bevorzuge diesen Ausdruck anstelle des modernen "coming of age", weil auch dieser Roman mit atavistischen Begriffen nur so gespickt ist (alabaster, Mumpitz, Wonne), wie auch die gesamte Sprache sehr altertümlich wirkt, obwohl die Handlung in der Gegenwart angesiedelt zu sein scheint.
Handlung? Nun ja, davon gibt es hier ehrlich gesagt nur wenig. Im Kunstunterricht reagiert die Lehrerin auf das Selbstportrait der einzig talentierten Schülerin mit der zweifelhaften Bemerkung vom "Mut zur Hässlichkeit". Kirsten, so der Name der Schülerin, verlässt daraufhin den Klassenraum. Der namenlose Ich-Erzähler als "Fehlpate" von Kirsten packt zum Stundenende hin ihre Sachen, der neue Mitschüler Carl eignet sich besagtes Selbstportrait an und fordert den Ich-Erzähler auf, ihm zu folgen.
„Kirsten schluckte in die unmittelbar eingetretene Stille hinein. Nach einer ins Unerträgliche gedehnten Pause, in der alle wie gelähmt auf sie starrten, stand sie auf und rannte mit vor die Augen geschlagenen Händen nach hinten aus dem Kunstraum in das steinerne Treppenhaus.“
Daraus entspinnt sich die gesamte Geschichte, die einen "Rachelplan" Carls verfolgt, der aber nur im Ansatz umgesetzt wird, bevor Kirsten eine eigene Dynamik ins Geschehen bringt. Die, die zum Schein verschwinden sollte, um der Kunstlehrerin einen Denkzettel zu verpassen, verschwindet schließlich tatsächlich, als sie in Carls Geheimversteck ihr eigenes Selbstportrait entdeckt. Die beiden Jungen begeben sich auf die Suche nach ihr...
Alle drei Jugendliche wirken auf ihre Art wie aus der Zeit gefallen. Kirsten lebt in einem eigenartigen Elternhaus, gestaltet ganz nach den Bedürfnissen der Mutter, die auf alles Künstliche allergisch reagiert. Der Ich-Erzähler ist ein Eigenbrötler, der sich nach dem Besonderen in all der Normalität um sich her sehnt und sich ständig in Gedanken und Detailbetrachtungen verliert, dabei aber seine Beobachtungsgabe überaus geschärft hat. Und Carl, der kunstverständige Neue in der Klasse, scheint glatt einem Bild von Spitzweg entsprungen zu sein: "Der Hagestolz" (der im Übrigen auch das Cover ziert).
Carl erweist sich als Liebhaber des Schönen. Er hat eine Nische im Haus zu einem geheimen Kunstversteck ausgebaut, und neben reinen Düften, kleinen Leckereien und klassischer Musik frönt er dort seiner Leidenschaft für die Kunst. Wie der Hagestolz von Spitzweg ist Carl ein Einzelgänger, der sein Wissen über Kunst und Musik freigiebig teilt und dabei zumindest den Ich-Erzähler zunehmend mit seiner Begeisterung anstecken kann.
„Was mich am meisten beeindruckte, war der unvergleichlich angenehme Geruch des Raums, der offensichtlich keinerlei Fenster besaß. Es war eine Mischung aus Holz und kaltem süßlichen Weihrauch, die nach Honig, Wald, Tabak und Zeder zugleich duftete (…).“
Der Roman feiert nicht nur die Liebe zur Kunst, sondern auch die zur Sprache. Schöne Sprachbilder, zahllose zitatwürdige Sätze, ein Schwelgen in altertümlichen Begriffen. Alles Dinge, die mich sehr ansprechen. Allerdings strapaziert Eckhart Nickel dabei auch die Geduld des Lesers / der Leserin. Wer nicht wie Carl oder der Ich-Erzähler die Liebe zum auch noch so kleinsten Detail teilt, der muss hier Durchhaltevermögen beweisen. Manche der Szenen wirken so, als hätten sie dem Autor als Übungsaufgabe gedient, um durch genaueste Beobachtung und die Schilderung auch wirklich jeder Kleinigkeit ein vollkommenes Bild im Kopf des Lesers / der Leserin entstehen zu lassen. Ich persönlich empfand das auf Dauer doch als recht anstrengend.
Überhaupt ist die Erzählung alles andere als geradlinig. Ständig wird die sowieso schon minimalistische Handlung unterbrochen durch Reflexionen über gänzlich andere Themen sowie essayhaft anmutende und dozierend vorgetragene Ausführungen über einzelne Kunstwerke oder damit zusammenhängende Bereiche, so dass der Roman letztlich eher eine Aneinanderreihung von nur bedingt zusammenhängenden Szenen ist denn eine kongruente Handlungsabfolge. Auch das empfand ich oftmals als Herausforderung. Definitiv nichts für Ungeduldige.
Was nun die Bedeutungsebene des Romans anbelangt - da bin ich raus. Sowohl eine eventuelle Bedeutung der Kunst(betrachtung) hinsichtlich des Erwachsenwerdens der drei Jugendlichen als auch eine möglichereweise implizierte Gesellschaftskritik der Moderne, beides erschloss sich mir nicht.
In jedem Fall ist die Erzählung dazu geeignet, das eigene Beobachungsverhalten zu schärfen - nimmt man hier seitenlang beschriebene Kunstwerke hinzu und betrachtet diese gleichzeitig zum Lesevorgang, so wird man Details und Interpretationsmöglichkeiten entdecken, die einem ansonsten vermutlich verborgen bleiben.
Handlungsarm aber sprachgewaltig und voller detailreicher Bilder, vermittelt der Roman ein intellektuelles Sehnsuchtsdenken. In jedem Fall ein eigenwilliges Leseerlebnis.
© Parden
- Herausgeber : Piper; 4. Edition (28. April 2022)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 256 Seiten
- ISBN-10 : 3492071430
- ISBN-13 : 978-3492071437
Bisher davon im Blog vorgestellt:
- Fatma Aydemir – „Dschinns“
- Kristine Bilkau – „Nebenan“
- Daniela Dröscher – „Lügen über meine Mutter“
- Eckhart Nickel - "Spitzweg"
Noch geplant:
- Kim de l'Horizon - "Blutbuch"
Ich schlage mich gerade durch einem Roman mit sehr ausgefeilter Sprache, Hochdeutsch (im Sinne von „hochelbisch“ oder „valyrisch“ - was dir vermutlich nicht viel sagt, jedenfalls ist es „gehoben“), etwas, wo das bürgerlich-humanistische Gymnasium geholfen hätte, etwas, was du aber vielleicht hier gefunden hast. (In meinem Fall würden die dort vermittelten Kenntnisse in Latein und Griechisch und in römischer und griechischer Mythologie: Proserpina von Elisabeth Langgässer)
AntwortenLöschenAnsonsten erinnert mich deine Besprechung, seltsamerweise (?) an „Kunst“ von Yasmina Reza, da streiten sich drei Freunde um ein Bild.
„Bildungsroman“ weist insofern auf notwendige Kenntnis hoher Sprache hin?
Schon mein Kommentar - ein einziges Durcheinander…
Grüße vom Bücherjungen AUS Dresden
Ein Bildungsroman ist ein Roman, in dem der Prozess der geistigen und charakterlichen Bildung des Helden bzw. der Heldin dargestellt wird - veraltet für "coming of age". Aber ja, gehobener Sprache begegnet man hier durchaus. Und einer Vielzahl von Kunstwerken, Musikstücken, Literaturtiteln - schon herausfordernd.
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