Sonntag, 16. Oktober 2022

Nickel, Eckhart: Spitzweg

Als zufriedener Kunstbanause offenbart sich der Erzähler zu Beginn und berichtet davon, wie Carl, bewunderter Freund, ihn mit seiner Spitzweg-Begeisterung vom Gegenteil überzeugt. In der Mitte des Geschehens: eine Dreiecksbeziehung, ein hochbegabtes Mädchen und der verräterische Diebstahl eines Gemäldes. Durch raffinierte Rachepläne wird die Schülerfreundschaft auf ihre schwerste Probe gestellt. Eckhart Nickel erzählt wie in „Hysteria“ die Geschichte einer Obsession: War darin von der Natur nur noch künstliche Reproduktion übrig, wird nun die Kunst zur zweiten Natur des Menschen. Eine raffinierte Kritik an der Bildvergötterung der sozial verwahrlosten Digitalgesellschaft und ihrer allmächtigen Instagrammatik. (Klappentext)












Im August stellte ich hier im Blog die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises vor, morgen schon wird der Preisträger bekanntgegeben. Von der Shortlist habe ich bereits einige Bücher gelesen und hier im Blog vorgestellt (Dschinns, Nebenan und Lügen über meine Mutter), dies ist nun der vierte Roman  der Liste - einen herzlichen Dank dafür wieder einmal an NetGalley! Den fünften Roman (Blutbuch) stelle ich demnächst vor, das gelingt kaum noch vor der Preisverleihung. Nur den sechsten (Trottel) werde ich nicht lesen, selbst wenn er den Preis gewinnen sollte, da regen sich schon bei der Leseprobe Widerstände in mir, und die bisherigen Rezensionen zum Buch scheinen mir da Recht zu geben. Doch nun soll es um "Spitzweg" gehen: in jedem Fall kann man ihm schon einmal das Prädikat "ausßergewöhnlich" attestieren. Mehr dazu könnt Ihr hier lesen: 

















NICHTS FÜR UNGEDULDIGE...


Quelle: Pixabay

Zufriedener Kunstbanause - das war der Ausdruck im Klappentext, der mich einfing. Denn, ehrlich gesagt, als solchen sehe ich mich durchaus auch. Und wenn der Ich-Erzähler durch seinen Freund vom Gegenteil überzeugt werden kann, weshalb nicht auch ich? Und der Biedermeier-Maler Carl Spitzweg, immerhin, sagt mir etwas, als Vielleserin sind mir vor allem seine Werke "Der Bücherwurm" sowie "Der arme Poet" ein Begriff. Denen begegnet man hier im Roman jedoch nicht.

Vordergründig geht es um drei Abiturient:innen, die hier ihr kleines Abenteuer erleben und damit die Erzählung zu einem Bildungsroman machen. Ich bevorzuge diesen Ausdruck anstelle des modernen "coming of age", weil auch dieser Roman mit atavistischen Begriffen nur so gespickt ist (alabaster, Mumpitz, Wonne), wie auch die gesamte Sprache sehr altertümlich wirkt, obwohl die Handlung in der Gegenwart angesiedelt zu sein scheint.

Handlung? Nun ja, davon gibt es hier ehrlich gesagt nur wenig. Im Kunstunterricht reagiert die Lehrerin auf das Selbstportrait der einzig talentierten Schülerin mit der zweifelhaften Bemerkung vom "Mut zur Hässlichkeit". Kirsten, so der Name der Schülerin, verlässt daraufhin den Klassenraum. Der namenlose Ich-Erzähler als "Fehlpate" von Kirsten packt zum Stundenende hin ihre Sachen, der neue Mitschüler Carl eignet sich besagtes Selbstportrait an und fordert den Ich-Erzähler auf, ihm zu folgen.


„Kirsten schluckte in die unmittelbar eingetretene Stille hinein. Nach einer ins Unerträgliche gedehnten Pause, in der alle wie gelähmt auf sie starrten, stand sie auf und rannte mit vor die Augen geschlagenen Händen nach hinten aus dem Kunstraum in das steinerne Treppenhaus.“


Daraus entspinnt sich die gesamte Geschichte, die einen "Rachelplan" Carls verfolgt, der aber nur im Ansatz umgesetzt wird, bevor Kirsten eine eigene Dynamik ins Geschehen bringt. Die, die zum Schein verschwinden sollte, um der Kunstlehrerin einen Denkzettel zu verpassen, verschwindet schließlich tatsächlich, als sie in Carls Geheimversteck ihr eigenes Selbstportrait entdeckt. Die beiden Jungen begeben sich auf die Suche nach ihr...

Alle drei Jugendliche wirken auf ihre Art wie aus der Zeit gefallen. Kirsten lebt in einem eigenartigen Elternhaus, gestaltet ganz nach den Bedürfnissen der Mutter, die auf alles Künstliche allergisch reagiert. Der Ich-Erzähler ist ein Eigenbrötler, der sich nach dem Besonderen in all der Normalität um sich her sehnt und sich ständig in Gedanken und Detailbetrachtungen verliert, dabei aber seine Beobachtungsgabe überaus geschärft hat. Und Carl, der kunstverständige Neue in der Klasse, scheint glatt einem Bild von Spitzweg entsprungen zu sein: "Der Hagestolz" (der im Übrigen auch das Cover ziert).

Carl erweist sich als Liebhaber des Schönen. Er hat eine Nische im Haus zu einem geheimen Kunstversteck ausgebaut, und neben reinen Düften, kleinen Leckereien und klassischer Musik frönt er dort seiner Leidenschaft für die Kunst. Wie der Hagestolz von Spitzweg ist Carl ein Einzelgänger, der sein Wissen über Kunst und Musik freigiebig teilt und dabei zumindest den Ich-Erzähler zunehmend mit seiner Begeisterung anstecken kann.


„Was mich am meisten beeindruckte, war der unvergleichlich angenehme Geruch des Raums, der offensichtlich keinerlei Fenster besaß. Es war eine Mischung aus Holz und kaltem süßlichen Weihrauch, die nach Honig, Wald, Tabak und Zeder zugleich duftete (…).“


Der Roman feiert nicht nur die Liebe zur Kunst, sondern auch die zur Sprache. Schöne Sprachbilder, zahllose zitatwürdige Sätze, ein Schwelgen in altertümlichen Begriffen. Alles Dinge, die mich sehr ansprechen. Allerdings strapaziert Eckhart Nickel dabei auch die Geduld des Lesers / der Leserin. Wer nicht wie Carl oder der Ich-Erzähler die Liebe zum auch noch so kleinsten Detail teilt, der muss hier Durchhaltevermögen beweisen. Manche der Szenen wirken so, als hätten sie dem Autor als Übungsaufgabe gedient, um durch genaueste Beobachtung und die Schilderung auch wirklich jeder Kleinigkeit ein vollkommenes Bild im Kopf des Lesers / der Leserin entstehen zu lassen. Ich persönlich empfand das auf Dauer doch als recht anstrengend.

Überhaupt ist die Erzählung alles andere als geradlinig. Ständig wird die sowieso schon minimalistische Handlung unterbrochen durch Reflexionen über gänzlich andere Themen sowie essayhaft anmutende und dozierend vorgetragene Ausführungen über einzelne Kunstwerke oder damit zusammenhängende Bereiche, so dass der Roman letztlich eher eine Aneinanderreihung von nur bedingt zusammenhängenden Szenen ist denn eine kongruente Handlungsabfolge. Auch das empfand ich oftmals als Herausforderung. Definitiv nichts für Ungeduldige.

Was nun die Bedeutungsebene des Romans anbelangt - da bin ich raus. Sowohl eine eventuelle Bedeutung der Kunst(betrachtung) hinsichtlich des Erwachsenwerdens der drei Jugendlichen als auch eine möglichereweise implizierte Gesellschaftskritik der Moderne, beides erschloss sich mir nicht.

In jedem Fall ist die Erzählung dazu geeignet, das eigene Beobachungsverhalten zu schärfen - nimmt man hier seitenlang beschriebene Kunstwerke hinzu und betrachtet diese gleichzeitig zum Lesevorgang, so wird man Details und Interpretationsmöglichkeiten entdecken, die einem ansonsten vermutlich verborgen bleiben.

Handlungsarm aber sprachgewaltig und voller detailreicher Bilder, vermittelt der Roman ein intellektuelles Sehnsuchtsdenken. In jedem Fall ein eigenwilliges Leseerlebnis.


© Parden















  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 4. Edition (28. April 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 256 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3492071430
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492071437






Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt/M., studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er gehörte zum popliterarischen Quintett „Tristesse Royale“ (1999) und debütierte 2000 mit dem Erzählband „Was ich davon halte“. Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift „Der Freund“ in Kathmandu. Heute schreibt er u.a. für die FAS, die SZ und die ZEIT. Bei Piper erschien u.a. die „Gebrauchsanweisung für Portugal“ und die Reiseerzählungen „Von unterwegs“ (2021). Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 wurde er für den Beginn von „Hysteria“ mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet und war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Im Jahr 2019 stand er auf der Shortlist des Franz-Hessel-Preises und erhielt den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg. 2022 wurde er von der Stadt Baden-Baden mit dem Baldreit-Stipendium ausgezeichnet. Sein hochgelobter neuer Roman „Spitzweg“ (2022) schaffte es direkt auf Platz 1 der SWR Bestenliste Juli/August 2022. (Quelle: Piper)











 

 

Bisher davon im Blog vorgestellt:

 

Noch geplant:


2 Kommentare:

  1. Ich schlage mich gerade durch einem Roman mit sehr ausgefeilter Sprache, Hochdeutsch (im Sinne von „hochelbisch“ oder „valyrisch“ - was dir vermutlich nicht viel sagt, jedenfalls ist es „gehoben“), etwas, wo das bürgerlich-humanistische Gymnasium geholfen hätte, etwas, was du aber vielleicht hier gefunden hast. (In meinem Fall würden die dort vermittelten Kenntnisse in Latein und Griechisch und in römischer und griechischer Mythologie: Proserpina von Elisabeth Langgässer)
    Ansonsten erinnert mich deine Besprechung, seltsamerweise (?) an „Kunst“ von Yasmina Reza, da streiten sich drei Freunde um ein Bild.
    „Bildungsroman“ weist insofern auf notwendige Kenntnis hoher Sprache hin?

    Schon mein Kommentar - ein einziges Durcheinander…
    Grüße vom Bücherjungen AUS Dresden

    AntwortenLöschen
  2. Ein Bildungsroman ist ein Roman, in dem der Prozess der geistigen und charakterlichen Bildung des Helden bzw. der Heldin dargestellt wird - veraltet für "coming of age". Aber ja, gehobener Sprache begegnet man hier durchaus. Und einer Vielzahl von Kunstwerken, Musikstücken, Literaturtiteln - schon herausfordernd.

    AntwortenLöschen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.