Freitag, 26. Februar 2021

Binet, Laurent: Eroberung

Was ist das: DIE GESCHICHTE? Es gibt da eine Gruppe auf einer bekannten Social-Media-Plattform, die nennt sich Geschichte & Archäologie. Zu der gehören schon über 50.000 (!) Mitglieder. Das ist enorm, denke ich. Was da alles an geschichtlichen Ereignissen hervorgekramt wird, ist beachtlich. Gelegentlich gibt es Streit, zum Beispiel dann, wenn mal wieder jemand der Meinung ist, weit zurückliegende Ereignisse rein „faktisch“ und nicht durch die heutige opto-politische Brille zu sehen. Als ob das gehen würde. Geschichte ist immer Rückblick, Geschichte wurde durch die geschrieben, die meist was gewonnen hatten oder sonst „übrig“ geblieben sind. Nach einer Pandemie zum Beispiel, oder einem Krieg... 

Man kann Geschichte aber auch so sehen wie der Franzose Laurent Binet. Der hat Geschichte in Prag studiert, was nicht heißt, dass die folgende „Definition“ irgendeine Art von Prager Geschichtsauffassung darstellen würde. Gleichwohl, man muss sich solche Worte schon mal in Ruhe vornehmen:

„Die Geschichte lehrt uns, dass wenige Ereignisse es der Mühe wert erachten, sich rechtzeitig anzukündigen, dar manche, die sich jeglicher Vorhersage entziehen, und dass letztlich die allermeisten sich damit begnügen, einfach einzutreten.“ 

Vorsicht: Spoiler! 

Wann hätte der nächste Seefahrer versucht, Indien zu erreichen, wenn dieser Cristóbal Colón nicht zurückgekommen wäre? Wenn die Pinta, die Niña und die Santa Maria Opfer eines Sturmes geworden wären? Oder aus anderen Gründen auf Hispanola verblieben? Was, wenn die Wikinger um Erik und Leif weiter nach Amerika vorgestoßen wären und die Skrälinge gelernt hätten, mit Rasenerz umzugehen? Wieso stoßen die Inkas, die sich gerade bekriegen und deren Teil um Adahualpa auf nördliche Ureinwohner treffen, die einen Donnergott namens Thor im göttlichen Portfolio haben?

Langsam bereitet Laurent Benet die Leserinnen und Leser darauf vor, dass einfach andere als die bekannten Ereignis plötzlich „einfach eintreten.“

Adahualpa und Huáscar sind tatsächlich zwei Inka-Brüder, die sich einen Bürgerkrieg lieferten. In Binets Geschichte flieht Adahualpa mit Mann und Maus in Richtung Norden, setzt auf Kuba über und lässt nach Vorlage der Schiffsgerippe der dort rumliegenden Schiffswracks der Niña, der Pinta und der Santa Maria neue Schiffe bauen, segelt über den Atlantik und stößt  in Portugal auf europäisches Festland. 

Mehr darf man eigentlich nicht verraten, vielleicht noch, dass er eine meist nackt herumlaufende kubanische Prinzessin mitnimmt, die seine Mutter hätte sein können und deren fehlende Kleidung die Priester des „angenagelten Gottes“, die „Geschorenen“, ins Entsetzen fallen lässt. Heißt, die schlagen die Hände vors Gesicht und schlunzen durch die Finger. Higuenamota wird mal die Niederlande beherrschen. Und diverse Fürsten haben zweite Vornamen, die deren Inka- Stammbaum beweisen. 

Wenn man es ganz kurz zusammenfassen will, dann bringen zur erst die Wikinger den Donnergott, den Schiffbau und das Schmiedehandwerk nach Amerika, der Kolumbus trifft auf Menschen mit Traditionen, die darauf fußen, doch statt ihm kommt ein Sohn der Sonne nach Europa zurück und Miguel de Cervantes Saavedras Leben verläuft etwas anders.

* * *

Was am Anfang nach einem großen Spaß aussieht, einem Spaß der zu andauernder Googelei führt, die selbst die Namen der Inka - Generäle bestätigt, wird bald bitterer Ernst. Es hört sich so gut an, dass Adahualpa im Edikt von Sevilla die allgemeine Religionsfreiheit proklamiert, natürlich muss die Sonne ihren Platz darin haben. Eine Alternative zu den religiösen Auseinandersetzungen im Europa des 16. Jahrhunderts? Dass der Inka auf Tizian und Michelangelo trifft und Machiavelli liest, ist amüsant, aber schnell zeigt sich, dass auch seine Macht, auf Gold und Silberströmen beruhend, die aus Südamerika herüberkommen, „verteidigt“ werden muss. Das geht nicht ohne Gewalt. Wir lernen in neuem geschichtlichen Kontext Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus kennen, deren Briefwechsel plötzlich etwas anders aussieht, während Heinrich VIII. die Sonne anbetet. Philipp Melanchthon und Martin Luther treten auf und des Autors Sympathie für Thomas Müntzer ist offensichtlich. 

Kurz, ob Kolumbus` Tagebuch, der genannte Briefwechsel oder die 95 Sonnenthesen an der Schlosskirche zu Wittenberg, das Buch ist kurzweilig. Und es wird toternst, denn, wie gesagt, ohne Gewalt geht es nicht aus. Zumal plötzlich noch eine Macht auf den Plan tritt, die Mexikaner. Andere nennen sie Atzteken...

Cervantes trifft auf Michel des Montaigne und der zitiert, hier leicht aus dem Kontext gerissen, Horaz: 

„Gerecht wird ungerecht, und weise wird unweis´, geht zu weit das Streben,                                                              sittlicher zu sein als die Sittlichkeit.“ 

 

Mir scheint, darum ging es Binet: Auch Gutes oder gute Ideen werden zum Gegenteil, wenn man Macht gebrauchen muss, es zwingend durchzusetzen und Alternativen gar nicht erst sucht.

Die Idee, dass die Sonne, die jeden wärmt, die bessere Gottheit wäre, wärmt. Besser als der „angenagelte Gott“, der zu Kriegen führt und von beiden Seiten ins Feld geführt wird. Doch auch der Sonne geht es so, wie der brüderlicher Krieg in den vier Reichsteilen Südamerikas beweist. Im fünften Reichsteil, dass dessen älteren Bewohner Europa nennen, kämpft jeder gegen jeden.

* * *

Geschichtsauffassung. In der Schule und im Studium wurde ich hauptsächlich mit einer Art sozio-ökonomischer Geschichtsauffassung konfrontiert, da die „Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen“ sei. Immer dann, wenn die Hauptproduktivkraft Mensch (Arbeiter) an eine Grenze ihrer Weiterentwicklung stieß, war somit Gelegenheit für eine neue, progressivere Gesellschaft, eventuell durch eine Revolution hervorgerufen. So einfach mache ich es mir heut sicher nicht mehr. Historische Ereignisse können und werden auch aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. 

Nehmen wir Luther, der in Binets Roman vor allem in seiner Widersprüchlichkeit auftritt: bezeichnend dafür sein damals üblicher Antisemitismus und die glasklare Ablehnung der neuen Inka-Religion, obwohl der ehemalige Augustiner gerade die ecclesia catholica entschieden angegriffen hatte. Das seine Bibel-Übersetzung dazu geführt hat, dass man in Bayern, Sachsen und Ostfriesland dasselbe Deutsch liest (auch wenn man sich trotzdem nur schwer versteht), bleibt sein Verdienst, genau wie die Abschaffung des Ablasshandels in den protestantischen Ländern. Die Bauern, denen er das Recht auf ihre Revolution absprach (Wider die räuberischen Horden der Bauern – schrieb er während des Bauernkriegs und Thomas Müntzers Hinrichtung), reißen ihn hier im Roman letztlich in Stücke.


Nein, wir können, wir dürfen und wir müssen historische Ereignisse immer wieder neu betrachten, einen amüsanten, einen abenteuerlichen Versuch bietet uns hier Laurent Binet. Dass eine Alternativgeschichte keine Wissenschaft ist, würde ich annehmen; dass Alternativgeschichten den Blick schärfen können, allerdings auch. Bezogen auf den Anfang ganz oben: Man kann Geschichte und Archäologie nicht rein faktisch betreiben. Höchstens kontrafaktisch, interpretieren durch anders erzählen.

Binet ist dies in herausragendem Maße gelungen. Zudem hält er uns den Spiegel vor. Wie weit sind wir zu gehen bereit, eine bessere eine humanistische Gesellschaft durchzusetzen? Mit Gewalt? Mit wieviel Gewalt? 

Lesen! Amüsieren! Recherchieren! Verstehen!




Text Rowohlt Verlag / Autorenbild: Wikipedia

Auf Litterae-Artesque wurden an Alternativgeschichten bereits besprochen:
Heiger Ostertag: Walkürenritt
Oliver Henkel: Kaisertag
Siegfried Langer: Alles bleibt anders
Robert Harris: Vaterland

© Bücherjunge



2 Kommentare:

  1. DAS wäre doch mal eine hervorragende Erzählung für den Geschichtsunterricht in Schulen. So intensiv, wie man sich da mit den tatsächlichen Begebenheiten (per Google & Co.) auseinandersetzen muss, wäre das doch ein sehr reizvoller Ansatz, der sicherlich so manchen Schüler eher zum Unterricht motivieren würde als die oftmals so drögen Schulbücher...

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    1. Das Buch selber würde vermutlich den Unterricht sprengen, zu viele unterschiedliche Zeit- und Handlungsebenen. Aber die Idee, eine Fake-Geschichte zu erzählen und die Schüler herausfínden lassen, was stimmt und wie es wirklich war, das finde ich sehr interessant.

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