Samstag, 27. Februar 2021

Phillips, Julia: Das Verschwinden der Erde

An einem Sommertag an der Küste Kamtschatkas verschwinden die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Das Verbrechen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Stadt in Aufruhr.

Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt uns der Roman in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane.






  • Herausgeber : dtv Verlagsgesellschaft (22. Januar 2021)
  • Sprache : Deutsch
  • Übersetzung: Roberto de Hollanda & Pociao
  • Gebundene Ausgabe : 376 Seiten
  • ISBN-10 : 3423282584
  • ISBN-13 : 978-3423282581
  • Originaltitel : Disappearing Earth




Gelesen habe ich diesen Roman im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin, was sich diesmal sehr lebendig gestaltete. Von Begeisterung bis Ernüchterung gingen die Wellen des Erlebens bei der Lektüre, und lehrreich waren sowohl der Roman als auch die Leserunde, weil da so einiges an Wissen zusammengetragen wurde. Auch wenn es für mich einige langatmige Passagen gab, die das Lesetempo zeitweise doch erheblich drosselten, hat sich die Lektüre unbedingt gelohnt. Weshalb? Lest selbst:
 
 
 
 
 
 
 












KAMTSCHATKA - WO LIEGT DAS EIGENTLICH?



Petropawlowsk-Kamtschatski (Quelle: Wikipedia)
 
Wenn dieser Roman eines NICHT ist, dann ist es ein Thriller. Auf die Idee könnte man anhand der Ausgangssituation kommen: da verschwinden zwei kleine Mädchen, im ersten Kapitel erfährt der Leser ausführlich von den Umständen des Verschwindens. Doch dann bleiben die beiden Mädchen ebenso verschwunden wie die Ermittlungen zu dem Fall. Ein Aufhänger, der zu den weiteren Kapiteln führt, ohne wirklich im Vordergrund zu stehen. Ein verbindendes Glied, mehr nicht.

Das klingt schon außergewöhnlich - und tatsächlich fällt dieser Roman aus der Reihe. Geschrieben wurde er von Julia Phillips, einer Amerikanerin, die ihr Debüt allerdings auf der ganz anderen Seite der Welt angesiedelt hat: in Kamtschatka. Hm. Anfangs fragte ich mich leicht verwirrt, wo dieses Kamtschatka überhaupt genau liegt, doch zum Glück kennt das www. da eine Antwort - und so weiß ich nun, dass es sich bei diesem Landstrich um eine Halbinsel handelt, gehörend zu den östlichsten der sieben Förderationskreise Russlands, Japan deutlich näher als beispielsweise Moskau. Verlassen werden kann die Halbinsel nur per Flugzeug oder Schiff, das Überqueren der Gebirgskette zum russischen Festland hin scheint unmöglich. Eine geschlossene Gesellschaft also.

Außergewöhnlich ist auch die Komposition des Romans. Untergliedert ist er in einzelne Kapitel, die nur sehr lose miteinander verbunden sind. Jedes Kapitel stellt eine andere Frau als Hauptcharakter vor, die Verbindung zu den verschwundenen Mädchen ist teilweise kaum vorhanden, dennoch wird das Leben aller vorgestellten Personen davon berührt. Und Personen, die bereits in einem Kapitel vorgestellt wurden, tauchen lose auch in weiteren Kapiteln auf, so dass letztlich trotz der kurzgeschichtenartigen Erzählungen doch der Eindruck eines zusammenhängenden Romans entsteht. Allerdings erfordert dies auch ein sehr aufmerksames Lesen, damit einem womöglich bedeutungsvolle Zusammenhänge nicht entgehen - denn schlussendlich bleibt doch im Hinterkopf die Frage, was mit den beiden Mädchen geschehen ist.

Durch den Wechsel der Personen in diesem Episodenroman erfährt der Leser nach und nach viel über Kamtschatka, beispielsweise über den Riss in der Gesellschaft zwischen den ursprünglichen Bewohnern (Korjaken, Itelmenen, Ewenen, Tschuktschen und Aleuten) und den russischen Besatzern, die diese Halbinsel Ende des 17. Jahrhunderts annektiert und im 20. Jahrhundert über 50 Jahre lang zum militärischen Sperrgebiet erklärt hatten. Seit 1990 ist Kamtschakta auch für Touristen zugänglich, und die russische Bevölkerung erlebte dadurch einen gewaltigen Bruch hinsichtlich ihrer bisherigen Lebensumstände.

Durch die eigenwillige Komposition des Romans entsteht nach und nach nicht nur ein detailliertes Gesellschaftsbild, das von Unsicherheit und Veränderung geprägt ist, sondern auch ein facettenreiches Mosaik aus Familien- und Beziehungsgeschichten, in denen die Frauen im Mittelpunkt stehen. In einem Interview verriet die Autorin Julia Phillips hierzu:


"Der Roman ist vielstimmig angelegt, wobei sich jedes Kapitel auf die Perspektive einer anderen Frau konzentriert, um das Spektrum von Gewalt in den Leben von Frauen zu untersuchen – Gewalt im Sinne der seltenen und medial verbreiteten Ereignisse (die Entführung durch einen Fremden) und den alltäglichen, über die kaum gesprochen wird (ein schwieriger Arztbesuch, eine Beleidigung). Der Roman richtet sein Augenmerk auf dieses Spektrum, weil ich es als so prägend für meine eigenen Erfahrungen als Frau empfinde, und doch den Eindruck habe, dass wenig Auseinandersetzung damit stattfindet. Ich habe ›Das Verschwinden der Erde‹ geschrieben, um Gewalt gegen Frauen in unterschiedlichen Facetten in der heutigen Welt darzustellen, weil ich es erstaunlich finde, wie sehr sich die Verletzungen ähneln, überlagern und uns verbinden." (nachzulesen bei Amazon.de)


Julia Phillips nutzt das Verschwinden der Kinder als loses Bindeglied zwischen den einzelnen Mädchen/Frauen/Kapiteln, die in der Summe ein Gesellschaftsbild zeichnen, das viele Probleme offenbart. Die Rolle der untergeordneten und abhängigen Frau, die immer irgendwem gefallen muss, die Vorurteile, der Rassismus, ebenso wie überholte/überrollte Lebensentwürfe. Die Tradition der Ureinwohner ist genauso Geschichte (Folklore) wie die Tradition der Russen, die als Militärmacht herrschten und sich nun mit den neuen Gegebenheiten irgendwie arrangieren müssen. Eine patriarchalische Gesellschaft im Umbruch, bei der Alkohol und (körperliche wie psychische) Gewalt keine geringe Rolle spielen.

Es ist ein atmosphärisches Bild, das hier gezeichnet wird, trist und düster zumeist, der Verfall ist allerorten spürbar. Dazu die zwangsläufige Resignation, die sich bei den vorgestellten Charakteren nahezu zwingend einstellt, weil Lebensträume in Kamtschatka einfach nicht gelebt werden können - zu eng ist das gesellschaftliche Korsett ohne wirkliche Alternativen zu bieten. Dabei ist das Bemühen Phillips erkennbar, möglichst alle relevanten Themen auszuschöpfen, was mir in der Summe jedoch stellenweise zu viel wurde - im Verlauf der Lektüre stellten sich bei mir doch einge Male Ermüdungserscheinungen ein.

Zugute halten muss man dem Roman allerdings neben den bereits genannten Besonderheiten, dass er in meinen Augen lückenlos konzipiert wurde, dass trotz der episodenhaften Erzählweise ein Zusammenhang erkennbar ist und dass er neben der Verortung des Geschehens im abgelegenen Kamtschatka doch auch Allgemeingütligkeiten aufweist. Das Ende ist offen und damit ein wenig unklar, doch bietet es allen Lesarten eine Antwort. Das mag tröstlich sein - oder auch nicht. Mehr darf/will ich hier nicht verraten...

Ich würde hier gerne 3,5 Sterne vergeben, da die langatmigen Passagen das Lesen doch ziemlich in die Länge zogen. Aufgrund der außergewöhnlichen Aspekte des Romans runde ich diese 3,5 Sterne letztendlich jedoch zu knappen 4 auf. In jedem Fall verspricht dieser Roman ein außergewöhnliches Leseerlebnis, das sich lohnt...


© Parden




















Julia Phillips, geboren 1988, lebt in Brooklyn, New York. ›Das Verschwinden der Erde‹ ist ihr erster Roman. Er stand auf der Shortlist des National Book Award 2019 und erscheint in 25 Ländern.



3 Kommentare:

  1. Schön, dass du jetzt weißt, wo Kamtschatka liegt. Vielleicht sollten nicht Amerikanerinnen darüber schreiben sondern Russinnen. Oder Tschuktschen, oder...

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    1. Witzig, dass du das schreibst. In der Leserunde habe ich Ähnliches angemerkt und erntete dafür nur Unverständnis... :)Die Autorin hat allerdings im Rahmen eines Stipendiums ein Jahr in Kamtschatka verbracht und war auch danach noch einmal für längere Zeit auf der Halbinsel und hat sich mit vielen Menschen unterhalten.

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    2. Dann kann man der Autorin ja nicht böse sein. Und wenn sich eine solche ein Jahr im fernsten Osten aufhält, dann "muss" sie ja was drüber schreiben.

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