Dienstag, 25. Juli 2023

Holland Moritz, Patricia: Kaßbergen

Chemnitz war bisher nun nicht die Stadt, die ich unbedingt hätte besuchen wollen. Das liegt nicht an dem alten hässlichen Namen „Rußchemz“ wegen der vielen Kohlenschlote der Industriestadt, die ein paar Jahrzehnte „Karl-Marx-Stadt“ hieß. Es ist auch tatsächlich das erste Mal, dass ich mehr als einen Artikel über die Stadt las, und dann gleich einen Roman.

Der Kaßberg (ˈkăsˌbɛʁɡ̥) ist der bevölkerungsreichste Stadtteil von Chemnitz und zählt zu den größten Gründerzeit- und Jugendstilvierteln Deutschlands.“ (wikipedia)

Über diesen Stadtteil hat Patricia Holland Moritz ihrenRoman Kaßbergen geschrieben, einen Gesellschaftsroman mit einigen wohl autobiografischen Erinnerungen. Fast alles dreht sich um Ulrike, einem Mädchen, dass „unterstützt“ durch Familienangehörige, deren Geschichte und die des Stadtteils erzählt. In Kaßbergen übrigens ist die Luft besser in der Industriestadt, auch daher zogen die Bürger gern auf diese Höhen und „erzählten sich Geschichten von einer glorreichen Vergangenheit“.

Die Geschichten der jüngeren Ulrike sind die von ihren Erinnerungen an ihre Großeltern mütterlicherseits,  die Oma wird Minister und der Opa Häuptling genannt, sie sind es, die „Kaßbergen“ beschreiben. 


Google Maps - Kaßberg


Besonders eindringlich empfand ich dabei zum Beispiel das Thema der Verfolgung und der Deportation der auf dem Berg ansässigen Juden während des Nationalsozialismus. Weiterhin macht uns die Autorin mit Helmut Flieg und Rudolf Leder bekannt, man kennt sie eher unter den Namen  Stefan Heym und Stephan Hermlin. (Lothar-Günther Buchheim und Walter Janka haben auch da gewohnt)

In den Dialogen mit den Großeltern findet sich ein besonderer Humor, den wir in der Rückblicken der Ulrike immer wieder finden. Und was der „Minister“ so alles weiß. 

„Bei einer Tasse Bohnenkaffee redete sie mit mir und dem Wellensitich Moritz. Ich saß bei einer Tasse Muckefuck und fütterte Moritz mit Hansa-Keksen. Der Vogel war gelb, und da ich sehen wollte, ob er grün wurde, füllte ich eines Abends blaugefärbtes Trinkwasser in das Röhrchen zwischen zwei Käfigstangen. Der Minister sah mir interessiert dabei zu.
‚Vom Experimentieren wird man schlau. Frag mal deine Mutter, ob sie Humboldt kennt.‘“ 
Dann erzählt die Oma von Humboldt und seinem Papagei und der Leser fragt sich immer wieder, woher die Oma das alles weiß. Malabgesehen davon, dass von so manchen Dingen gesagt wird, Ulrike dürfe sie nicht weiter erzählen oder in der Schule darüber plaudern.

Und dann diese kindlichen Rückblicke auf die Zeit als Pionier in der DDR und die Schulzeit. Holland Moritz ist 1967 geboren, da ergeben sich schnell Parallelen zur Biografie des Bloggers, auch wenn der in einer ganz anderen Familie aufgewachsen ist. 

Besonders viele Freunde hat die leicht pummelige Ulrike nicht. Da ist der Michi im selben Haus, dessen Vater mal Dirigent war und nun den ganzen Tag vorm Plattenspieler sitzt und immer noch dirigiert. Und dann kommt Gonzo und mit diesem die jugendlich-rebellische Zeit sowie die direktere Auseinandersetzung mit dem Staat, der der Stadt nach dem Inhaber des „Nischls“ benannt hat, der an einem zentralen Platz unterhalb des Kaßberges aufgestellt ist.

Abrupt das Ende, in dem der Vater seine Tochter in den Arm nimmt, deren Erwachsenenleben nun beginnen wird…

* * *

Der Leser schwankt zwischen Komik und Ernst, wobei Ulrikens Kinderjahre mehr Schmunzeln hervorrufen, als bestimmte Erzählungen der Älteren, in den späteren Jahren überwiegt der Ernst. Kritisch natürlich der „politische“ Blick auf Karl-Marx-Stadt, freundlich liebevoll die Draufsicht auf diesen Stadtteil, den zu besuchen sich vermutlich lohnt. Gelegentlich musste man überlegen, welcher Familienzweig gerade im Vordergrund stand, denn es gab ja noch die Großeltern von Mutterns Seite, oder eben die Exkurse zu Leder und Flieg. Die am eindringlichsten gezeichneten Personen sind die Großeltern und natürlich Ulrike - die Hauptfiguren -, manche bleiben etwas blas, wie die Mutter, während Ulrikes Vater im Lauf der Geschichte immer mehr hervortritt. 

So liegt vor uns ein Chemnitzer Kaleidoskop, nicht nur der DDR-Geschichte. 

„Die Alten waren in eine maschinenbetriebene Stadt hineingehören worden, als das Land noch ein anderes war. Ihre Kinder waren in Kellern zur Welt gekommen, während draußen Bomben fielen. Und wir, die bisher Letzten, nannten eine zusammengezimmerte Stadt „Heimat“, von der jeder Auswärtige sagte, er sei schon mal durchgefahren und sie habe eine schöne Umgebung.“ (Seite 7/8)

* * *

Patricia Holland Moritz las aus ihrem Buch in einer Lesung im Berliner Mauer-Panorama, während der es um Wahrheit und Fiktion in historischen Romanen ging. Kaßbergen ist so eine Mischung aus „Wahrheit und Fiktion“, eine gut gelungene Mischung, finde ich. Überhaupt wird heute in Romanen, anders als in mancher Sachliteratur, sachlicher, humorvoller und breiter auch über den Teil deutscher Geschichte erzählt, der oft DDR-Geschichte genannt wird. Ich habe den Roman gern gelesen und freue mich, die Autorin sicher einmal wider zu treffen, vielleicht klappt es ja bei Dresden (er)lesen in diesem Jahre, wie letztes Jahr auch.


Patricia Holland Moritz (2.v.l.) mit ihren Kollegen
Willi Hetze, Alexander Asisi und Christina Bacher
Lesung im Mauer-Panorama Berlin



© Dresdner Bücherjunge




 

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