Montag, 17. Juli 2023

Lemper, Ute: Die Zeitreisende - Zwischen Gestern und Morgen


Wie stieß ich einst auf Ute Lemper?
Ein Kinderbuch von Karen Levine mit dem Titel Hanas Koffer handelte von einem jüdischen Mädchen namens Hana, die in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Für die umfangreichere Buchbesprechung recherchierte ich viele Dinge und stieß auf ein Lied von Ilse Weber, das heißt Ich wandre durch Theresienstadt. Dann fand ich unter YouTube eine Interpretin des Liedes und stöberte gleich weiter nach jüdisch und jiddischen Liedern der Ute Lemper. Das war im Frühjahr 2016.



Ute Lemper: Ich wandre durch Theresienstadt (Ilse Weber)


Ein knappes Jahr später spielte der Weltstar in der wunderbaren Konzertkirche von Neustrelitz ihr Programm The 9 secrets nach Paulo Coelhos Roman Die Schriften von Accra. Ungewohnte Musik, neun thematische Lieder und ich hätte mich erst einmal belesen sollen, Ute Lemper sang sie auf englisch. Ich lehnte mich zurück und hörte nur zu. 

Im November 2019 dann erlebte ich ihr Programm Rendezvous mit Marlene im Dresdner Ostra Dome. Die Geschichte dahinter kannte ich schon, so manches hatte ich nachgelesen und tat mich etwas schwer mit Ute Lemper und ihrer Musik, Ute / Marlene begeisterte mich.

Kürzlich entdeckte ich die Biografie, mit dem Titel Die Zeitreisende, auch dazu gibt es eine Liedersammlung auf Englisch, Time Traveller. Es ist bereits die zweite Biografie...

Am 4. Juli 1963 wurde Ute Lemper in Münster geboren. Sechzig Jahre darf sie somit zählen, genau wie dieser Rezensent bald ebenso. Auf die annähernd Gleichaltrigen schaue ich seit einigen Jahren mit besonderen Interesse, meist sind das dann deutsche Schauspieler. Da passt Ute Lemper-Turkisher ganz gut rein.

Im Prolog kommt die Autorin ziemlich schnell auf Marlene Dietrich zu sprechen, die ihr einst im vielleicht wichtigsten (außerfamiliären) Telefongespräch sagt, dass die 24jährige ihr Leben, ihre private Person geheim halten soll. Jedoch schrieb sie bereits 1995 ihre erste Biografie, die sie „Unzensiert“ nannte. Das macht man mit 33 sicher nur, wenn man was zu erzählen hat, vielleicht, weil sie nach einer Reihe von schlimmen, erniedrigenden Erlebnissen was erzählen wollte. Der heutige deutsche Weltstar war in diesen Jahren über all berühmt, vor allem in Wien, Paris, London, nur die Deutschen hielten sich zurück, nahmen ihren Erfolg nicht besonders an. 


Rendevous mit Marlene

Dieses Telefongespräch mit Marlene Dietrich, die in der Bundesrepublik und Berlin (W) oft abgelehnt wurde, als Verräterin bezeichnet wurde, fand 1987 in Paris statt. Für einige Jahre haben die beiden da etwas gemeinsam, wie es scheint. 

Hier nun erzählt sie gegen Ende der Autobiografie die ganze Geschichte dieses, für ihr Leben so richtungsweisendem Telefonates, detailreich. Erst nach 33 Jahren wird daraus dieses wunderschönen Bühnen - Rendezvous in eine quasi Doppelrolle.

In jungen Jahren war das Leben der Künstlerin geprägt von ewigen Wiederaufführungen, Tag für Tag. Dafür steht Cabaret und Chikago. Die exzessive, tagtägliche Tanzarbeit (siehe Video All that Jazz) zeigt nun seit Jahren ihre körperlichen Folgen, der große Erfolg gibt ihr aber die Möglichkeit seit Jahren selbstbestimmend über die Bühnen und Konzertsäle zu ziehen.



Chikago - All that Jazz

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Die Familie. Ute Lemper ist in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, ihr etwas rebellischer Typ hat sie einen anderen Weg einschlagen lassen. Das getrennt sein von den Eltern, geht ihr nach deren Tod sehr nahe. Beide Ehemänner, mit denen sie je zwei Kinder hat, stammen aus einer jüdischen Familie mit Holocaust-Hintergrund. In den Erzählungen zu diesem Thema wird ihre Beziehung zum zu diesem Thema deutlich, sie bejaht die Verantwortung als selbst nicht verantwortliche Deutsche für diese schreckliche Zeit.

Ihre Tochter Stella, das zweite Kind, erzählt davon am Ende des Buches, wie sie versuchte, die jüdische Religion direkt durch die Bat Mitzwa anzunehmen. Die Frage, die steht, zeigt Ute Lemper schon im Prlog auf:

„Wie erkläre ich meinen Kindern, dass das Volk ihrer Mutter das Volk ihrer Väter vernichten wollte.“

Für mich ist das eine der zentralen Aussagen dieser Biografie.  Für mich persönlich schließt sich da der Kreis seit ich Ute Lemper im Lesen über Holocaust und Shoa fand.

* * *

Der zweite Aspekt ist, dass ich beim Lesen anfing, Kurt Weill und Bertold Brecht zu hören und dies wird, denke ich, weiter gehen. Denn Ute Lempers Buch bringt einem die Bedeutung der Komponisten und Dichter, dazu zählt zum Beispiel aus Eisler, näher. Schon während des Lesens suchte ich die Titel, was wiederum das Lesen verlängerte.

Der Blick auf Deutschland, im Zusammenhang mit Biografie 1 auch auf Ostdeutschland und die Wiedervereinigung ist ein intensiver und versteht sich unbedingt mit genau dieser Musik und diesen Liedern mit ein großes Publikum diese Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin verbindet. Inzwischen ist sie auch in Deutschland ein anerkannter Star.


Unzensiert 1995 // Bildstrecke 1992 - 2022


Der Rest? Der „Rest“ ist Musik. – Die Biografie erzählt soviel mehr als Musik, aber sie ist Musik.

Fand ich die Übernahme von seitenweise Text aus Unzensiert etwas eigentümlich, zeigt sich dieser Eindruck im Laufe des Lesens nicht mehr. Es ist einfach eine einzigartige, äußerst intensive, sehr  informative Erzählung über eine große Künstlerin und Frau, Mutter und Botschafterin, die mit ihrer Musik wirklich Menschlichkeit überbringt. 

Dass Stella Lemper-Tabatsky die Biografie abschließt, fand ich einen guten Schluss. Eine hervorragende Idee, die Tochter all das Gelesene reflektieren zu lassen.


DNB / Gräfe und Unzer / München 2022 / ISBN: 978-3-8338-8917-2 / 333 Seiten


© Der Bücherjunge




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