Nachdem mich MACHANDEL seinerzeit so begeistern konnte, habe ich mich sehr gefreut, als ich die Möglichkeit erhielt, auch Regina Scheers neuesten Roman lesen zu können. Dies geschah einmal mehr im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin, und die Diskussionen dazu waren sehr fruchtbar.
Mit diesem Roman rund um ein Haus im Berliner Viertel Wedding hatte ich allerdings so meine Probleme. Irgendwie gab es hier von allem zu viel. Zu viele Personen, zu viele Themen, zu viele Informationen... Und dennoch - ich komme nicht umhin, diesen Roman doch irgendwie auch zu mögen. Näheres erfahrt Ihr hier:
Inhalt: (Quelle: Penguin Verlag)
Alle sind sie untereinander und schicksalhaft mit dem ehemals roten
Wedding verbunden, diesem ärmlichen Stadtteil in Berlin. Mit dem
heruntergekommenen Haus dort in der Utrechter Straße. Leo, der nach 70
Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich
nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen
Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre
Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud,
die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem
Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat.
VOM MENSCHSEIN...
Quelle: Pixabay |
Neben dem Haus gibt es noch drei weitere Erzähl-Perspektiven, nämlich die von Leo, von Laila und von Gertrud.
Leo
Lehmann ist Jude und streifte während des Nationalsozialismus mit
seinem Freund Manfred als sog. U-Boot durch Wedding. Während die
Familien der beiden schon deportiert waren, hielten sich die Jungen
durch Schwarzmarkthandel über Wasser. In dem Haus in der Utrechter
Straße konnten sie sich immer wieder einmal verstecken. Nach dem Krieg
wanderte Leo nach Israel aus, engagierte sich dort in einem Kibbuz und
gründete eine Famile. Mit seiner Enkelin Nira ist er nun wieder in
Berlin, da es gilt, rechtliche und finanzielle Angelegenheiten zu
regeln. Leo sucht alte Schauplätze auf und erinnert sich, begegnet aber
auch interessanten Menschen von heute.
Laila
Fidler entstammt einer Sinti-Familie, ist als 16-Jährige mit ihrer
Mutter nach Berlin gekommen und dort geblieben. Sie hat das Abitur
gemacht und Sozialarbeit studiert, lebt von ihrem Noch-Mann getrennt und
arbeitet derzeit in einem Blumenladen. Laila bewohnt eine der Wohnungen
in dem Mietshaus in der Utrechter Straße, wo plötzlich noch zahlreiche
andere Sinti-Familien einquartiert werden. Obwohl Laila sich lange
bemüht hat, ihre Sinti-Wurzeln zu verbergen, steht sie nun den Familien
bei ihrem Gang zu den Ämtern, bei den Anträgen, bei Rechtsstreitigkeiten
zur Seite, wohl wissend, dass diese sonst niemanden haben, der sie
unterstützt.
Gertrud
Romberg schließlich wohnt schon ihr ganzes Leben lang in dem Haus im
Wedding, wo sie schon geboren wurde. Sie kannte Leo Lehmann und seinen
Freund Manfred in ihrer Jugend gut und bot ihnen während des
Nationalsozialismus immer wieder heimlich Unterschlupf. Als damals in
ihrer Wohnung Manfred verhaftet wurde, lag der Verdacht nahe, dass
Gertrud ihn verraten hätte. Leo hat seither jeden Kontakt zu ihr
gemieden - doch hatte Gertrud ihr ganz eigenes Schicksal in dieser Zeit.
Hochbetagt fügt sie sich nun den Veränderungen, die sich durch den
Zuzug der Sinti im Haus vollziehen. Wider Erwarten kommt sie mit einigen
von ihnen in einen regen Kontakt - und Erinnerungen kommen hoch...
Diese
doch recht ausführliche Vorstellung der Hauptcharaktere mag genügen um
zu verdeutlichen, dass hier drei Schicksale geschildert werden, die wohl
auch jedes für sich einen Roman gefüllt hätten. Doch Regina Scheer ist
ihrem Konzept treu geblieben, das sie auch in ihrem ersten Roman schon
angewandt hat (Machandel). Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven, wobei der Roman sehr vielschichtig angelegt ist und laufend eine
Fülle an Informationen, Emotionen, Nachdenkenswertem eingewoben wird.
Doch was mich bei Machandel noch begeistern konnte, empfand ich in
diesem aktuellen Roman an vielen Stellen als zu viel.
Zu viele Personen:
In jedem Abschnitt tauchen neue Namen auf, oft nur als Randnotiz,
teilweise auch als wiederkehrende Nebenfiguren, die immer wieder mal
eine Rolle spielen. Gerade bei den Abschnitten über die Sinti rauchte
mir oft der Kopf angesichts der zahllosen Namen, deren Schicksale wie an
einer Perlenkette des Leidens aneinandergereiht werden ohne dem Leser
die Zeit zu geben, wirklich daran teilzuhaben. Vielleicht war das von
der Autorin so gewollt, aber durch diese Vielzahl blieb ich zu allen
Figuren auf Distanz, selbst zu den Hauptcharakteren. Wenn ich ganz
ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich einzig einzelne Passagen aus
Sicht des Hauses überhaupt berührend fand.
Zu viele Themen:
Judenverfolgung, Hitlerjugend, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg,
die Geschichte des Hauses, die Geschichte des Viertels, der Zuzug der
Sinti und deren Geschichte(n) über die Jahrhunderte, die Haltung
Deutschlands (und anderer Länder) zu Juden und zu Sinti, Klischees, die
Sinti betreffend, unüberwindbarer Bürokratismus,
Vergangenheitsbewältigung, undurchdringliche Politik,
Immobilienspekulanten, die Geschichte und Entwicklung Israels,
kulturelle Besonderheiten der Sinti, Schuld und Vergebung - u.v.m. Ich
habe jetzt ins Blaue hineingeschrieben und ungeordnet, bei längerem
Nachdenken würde sich sicher noch mehr finden.
Zu viele Informationen:
Zusammenhängend mit der geschilderten Themenvielfalt prasselt ein Hagel
aus Informationsbrocken auf den Leser ein. Jedes Detail für sich
genommen: überaus interessant. In der Summe: eine Überforderung. Zu
merken ist auf jeder einzelnen Seite, wie akribisch und ausführlich
Regina Scheer hier zu den verschiedenen Themen recherchiert hat. Da ihr
offensichtlich jeder Wissensfund von Bedeutung schien, hat sie ihn
dementsprechend auch einfließen lassen. Ich fühlte mich da phasenweise
erschlagen.
Und
dennoch - bei aller Kritik an dem Zuviel: die Konzeption des Romans in
seiner Vielschichtigkeit ist auch bewundernswert. Vielleicht hätte ich
mir mehr Zeit nehmen müssen, immer höchstens einen Abschnitt lesen -
auch Machandel erforderte schon ein bedächtiges Lesen in kleinen
Portionen. Was mir ebenfalls gefiel, ist die Tatsache, dass Regina
Scheer in die Schilderungen von kulturellen Eigenheiten / Unterschieden
oder auch von Missständen keine Wertung einfließen lässt, wodurch beim
Leser zumindest eine kleine Annäherung an das 'Fremde' möglich wird, wo
ansonsten womöglich Abwehr gestanden hätte.
Es
ist kein warmherziger Roman, sondern eher distanziert geschrieben,
sachlich fast, so dass selbst Unfassbarkeiten kaum mit Emotionen
verbunden werden und auch bei mir als Leser selten einmal Gefühle
hervorriefen. Die Melancholie allerdings, die bereits Machandel schon
zueigen war, zog sich konsequent auch durch diesen Roman, was das Lesen
manchmal schwer machte.
Und
doch hat mir der Schreibstil Regina Scheers wieder gut gefallen - was
da manchmal so aufblitzte: davon hätte ich gerne mehr gehabt. Wie z.B.
das Gedicht:
Wenn ich sterbe, was geschieht dann
mit der Asche, die ich werde?
Hebt der Wind sie zu den Wolken
oder bleibt sie und wird Erde?
Ist ein kleines Stück von mir in
einem Aschekorn verfangen?
Kann es, wenn der Wind es fortträgt,
zu den Lebenden gelangen?
Die
Bewertung eines solchen Romans fällt mir schwer. Ich ahne wohl nur, wie
viel Recherchearbeit hinter den Zeilen liegt, wie sorgfältig hier die
Verflechtung der Handlungsstränge vollzogen wurde, wie sehr an den
Charakteren gefeilt wurde und wie wichtig die vielfältigen Themen der
Autorin selbst sind. Aber habe ich nicht auch ein Leseerlebnis zu
bewerten? Ich vergebe hier nun 3,5 Sterne, die ich gerne zu 4 Sternen
aufrunde, weil ich die o.g. Aspekte mit berücksichtigen will. Aber so
überzeugen wie mit ihrem Debüt konnte mich Regina Scheer mit diesem
Roman leider nicht.
© Parden
Produktinformation: (Quelle: Amazon.de)
- Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
- Verlag: Penguin Verlag (25. März 2019)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3328600167
- ISBN-13: 978-3328600169
Informationen zur Autorin: (Quelle: Penguin Verlag)
Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972–1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift «Forum». Danach war sie freie Autorin von Reportagen, Essays und Liedtexten und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift «Temperamente». Nach 1990 wirkte sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte. Für ihren ersten Roman «Machandel» erhielt sie 2014 den Mara-Cassens-Preis.
Das Konzept des Buches würde mir auch zusagen, schade, dass es bei dir nicht so gut angekommen ist.
AntwortenLöschenLG Uwe