Freitag, 7. Juni 2019

Bronsky, Alina: Der Zopf meiner Großmutter

Fast vier Jahre ist es her, dass ich mein erstes Buch von Alina Bronsky gelesen habe: Baba Dunjas letzte Liebe. In diesem neuen Roman geht es ebenfalls wieder um eine Großmutter - doch diesmal spielt die Erzählung nicht in Tschernobyl, sondern in Deutschland.

"Alles in allem ein kleines, feines Buch - ebenso wie sein Hauptcharakter leise und ohne Sentimentalität, dennoch mit melancholischem Unterton und gleichzeitig durchsetzt von augenzwinkerndem Humor. Eine Mischung, die mir gefallen hat, der ich allerdings einige Seiten mehr gewünscht hätte." Das schrieb ich damals als Fazit zu Baba Dunja. Nun, diesmal sind es ein paar mehr Seiten geworden. Ob ich deshalb also rundum überzeugt wurde? Lest selbst:

Inhalt: (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

Kaum jemand kann so böse, so witzig und rasant von eigenwilligen und doch so liebenswerten Charakteren erzählen wie Alina Bronsky: Max’ Großmutter soll früher einmal eine gefeierte Tänzerin gewesen sein. Jahrzehnte später hat sie im Flüchtlingswohnheim ein hart-herzliches Terrorregime errichtet. Wenn sie nicht gerade gegen das deutsche Schulsystem, die deutschen Süßigkeiten oder ihre Mitmenschen und deren Religionen wettert, beschützt sie ihren einzigen Enkel vor dem schädlichen Einfluss der neuen Welt. So bekommt sie erst als Letzte mit, dass ihr Mann sich verliebt hat. Was für andere Familien das Ende wäre, ist für Max und seine Großeltern jedoch erst der Anfang.

Ein Roman über eine Frau, die versucht, in einer Gesellschaft Fuß zu fassen, die ihr entgleitet. Über einen Mann, der alles kontrollieren kann außer seine Gefühle. Über einen Jungen, der durch den Wahnsinn der Erwachsenen navigiert und zwischen den Welten vermittelt. Und darüber, wie Patchwork gelingen kann, selbst wenn die Protagonisten von so einem seltsamen Wort noch nie gehört haben.










BITTERBÖSE, SCHWARZHUMORIG, ZWISCHENMENSCHLICH UND SKURRIL...


Quelle: Pixabay
"Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als mein Großvater sich verliebte (...) Bis dahin hatte ich mich für das einzige Problem meiner Großeltern gehalten..." (S. 5)


Auch wenn hier aus der Ich-Perspektive von Max erzählt wird, der zu Beginn knapp sechs Jahre alt ist und im Laufe des Romans der Pubertät entgegen wächst, gibt es hier unbestritten nur einen Hauptcharakter: die Großmutter. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber das Wort 'Großmutter' impliziert für mich Attribute wie 'weise', 'gütig', 'freundlich', 'großzügig' oder auch 'verwöhnend'. Nun, auf die Großmutter in diesem Roman trifft jedenfalls nichts davon zu.

Max ist zu Beginn des Romans mit seinen Großeltern gerade aus Russland nach Deutschland gezogen und lebt mit ihnen in einem Wohnheim für Auswanderer. Die Wohnverhältnisse sind äußerst beengt, der Großvater wortkarg, die Großmutter dagegen - nicht. Wortreich schwadroniert sie durch den Tag, hat zu jedem und allem etwas zu sagen - und nichts davon freundlich. Schimpfend und pöbelnd herrscht sie jeden an, vor allem den kleinen Max, der ein Idiot, eine Belastung, ein stets vom Tod bedrohtes Kind sei.

Tatsächlich behandelt sie ihn zwar barsch, dabei aber übertrieben fürsorglich - Schokolade, Weißmehl, Kuchen: alles zu gefährlich für den kleinen Organismus. Stattdessen gibt es zerkochtes, ungewürztes Gemüse, meist  auch noch zu einem faden Brei gestampft. Was klingt als sei es ein Fall für das Jugendamt, hat mich im Gegenteil köstlich amüsiert. Die Schilderungen sind vor allem am Anfang des Romans gleichzeitig haarsträubend und zum Brüllen komisch.


"Die Worte glitten an mir vorbei, und ich wollte ihnen nicht einmal hinterherdenken. Doch dann kehrten sie um, wie der Wind manchmal die Richtung wechselt, und bohrten sich in mein Hirn." (S. 119)


Würde man sich in die Lage von Max versetzen, müsste man schreiend davon laufen. Aber Alina Bronsky hat den Ich-Erzähler nicht weinerlich oder selbstmitleidig veranlagt, sondern eher stoisch wie seinen Großvater, beobachtend und doch seiner Wege gehend. Er findet im Laufe der Zeit 'Lücken im System', die er zu nutzen weiß - und so erfährt auch Max schließlich, wie Schokolade schmeckt oder wie es sich anfühlt, Dinge selbst entscheiden zu können.

Die kindliche Perspektive verleiht dem Leser zudem gleichzeitig das Gefühl, stets nah dran zu sein am Geschehen, und tatsächlich nur über eine Art Halbwissen zu verfügen. Dadurch bleibt die Neugier auf mögliche Enthüllungen bestehen.


"Warum wehrst du dich eigentlich nie? Gegen niemanden?" - "Ich käme dann zu nichts anderem mehr." (S. 133)


Umstände und Charaktere verändern sich im Laufe der Zeit, und die Großmutter hat ihre ganz eigene Art, darauf zu reagieren. Auch wenn die alte Frau alle Menschen in ihrem Umfeld immer wieder vor den Kopf stößt und versucht, alles und alle zu kontrollieren, mochte ich sie irgendwie auch in ihrer schrulligen Art. Ganz allmählich kommen auch andere Facetten zutage, Ereignisse aus ihrer Vergangenheit, die zum Teil erklären können, weshalb sie sich so verhält wie sie es nun einmal tut. Dennoch ist sie keine Figur, die einem leid tut, sondern eine, die das Leben - wenn auch auf ihre sehr spezielle Art - immer wieder bei den Hörnern packt.

Im letzten Drittel des Romans lässt sich Alina Bronsky weniger Zeit für die Erzählung, springt in den Zeiten oft unvermittelt vor, um an markanten Wendepunkten haltzumachen. Dies mag auf manche Leser verstörend wirken, mir aber reichte es, da keine wichtige Information fehlte und schlussendlich - oft auch zwischen den Zeilen - alles gesagt war.

Die Tragikomödie namens Leben hat Alina Bronsky in diesem Roman gelungen zur Schau gestellt - bitterböse, schwarzhumorig, zwischenmenschlich und skurril. Für mich ein unterhaltsames Leseerlebnis...


© Parden














Produktinformation: (Quelle: Amazon.de)
  • Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
  • Verlag: Kiepenheuer&Witsch (9. Mai 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3462051458
  • ISBN-13: 978-3462051452




Informationen zur Autorin: (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

Alina Bronsky, geboren 1978 in Jekaterinburg/Russland, lebt seit Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland. Ihr Debütroman »Scherbenpark« wurde zum Bestseller, fürs Kino verfilmt und ist inzwischen beliebte Lektüre im Deutschunterricht. Es folgten die Romane »Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche« und »Nenn mich einfach Superheld«. »Baba Dunjas letzte Liebe« wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein großer Publikumserfolg. Die Rechte an Alina Bronskys Romanen wurden in zwanzig Länder verkauft. Sie lebt in Berlin.

4 Kommentare:

  1. Momentan lese ich die „Hillbillie - Elegie“ von J.D. Vance. Mein Großmutterbild wandelt sich auch gerade. Genau die richtige Nachfolgelektüre für „Befreit“ von Tara Westover

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  2. Ich war sehr enttäuscht vom Buch. Gerade das, was die Autorin ausgelassen hatte, hätte mich sehr interessiert. Das letzte Drittel ist zu kurz, zu schnell abgehandelt.Die Handlungen und Reaktionen der Protas waren für mich kaum nachvollziehbar. Und der Schluss? Den fand ich nicht rund. Sehr, sehr schade, da die Idee sooo viel Potential hatte!

    Wenn du Lust hast, komm doch gerne HIER vorbei.

    GlG, monerl

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    1. Bücher treffen auf Erwartungen - manchmal werden sie erfüllt, ein andermal nicht. Ich verstehe Deine Einwände, teile sie jedoch nicht. So unterschiedlich werden eben auch Romane empfunden... ☺

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