Baba Dunja ist eine Tschernobyl-Heimkehrerin. Wo der Rest der Welt nach dem Reaktorunglück die tickenden Geigerzähler und die strahlenden Waldfrüchte fürchtet, baut sich die ehemalige Krankenschwester mit Gleichgesinnten ein neues Leben auf. Wasser gibt es aus dem Brunnen, Elektrizität an guten Tagen und Gemüse aus dem eigenen Garten. Die Vögel rufen im Niemandsland so laut wie nirgends sonst, die Spinnen weben verrückte Netze, und manchmal kommt sogar ein Toter auf einen Plausch vorbei. Während der sterbenskranke Petrov in der Hängematte Liebesgedichte liest, die Gavrilovs im Garten Schach spielen und die Melkerin Marja mit dem fast hundertjährigen Sidorow anbandelt, schreibt Baba Dunja Briefe an ihre Tochter Irina, die Chirurgin bei der deutschen Bundeswehr ist. Und an ihre Enkelin Laura. Doch dann kommen Fremde ins Dorf – und die Gemeinschaft steht erneut vor der Auflösung. Alina Bronsky lässt in ihrem neuen Roman eine untergegangene Welt wieder auferstehen. Komisch, klug und herzzerreißend erzählt sie die Geschichte eines Dorfes, das es nicht mehr geben soll – und einer außergewöhnlichen Frau, die im hohen Alter ihr selbstbestimmtes Paradies findet.
- Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
- Verlag: Kiepenheuer&Witsch (17. August 2015)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3462048023
- ISBN-13: 978-3462048025
- Preis: 16,00 Euro
HEIMAT...
Baba Dunja ist eine alte Frau, die keine 82 mehr ist, wie sie nicht müde wird zu betonen. Sie lebt in einem kleinen russischen Dorf mit wenigen Häusern, ein Bus ist die einzige Verbindung in die nächstgelegene Stadt, ein Telefon gibt es nicht, Strom nicht immer, dafür blüht und gedeiht das Obst und Gemüse im eigenen kleinen Garten, und im Sommer ist der Tisch immer reichlich gedeckt. Doch die Idylle trügt, denn Baba Dunja hat sich zu einer Ausgestoßenen erkoren - sie ist zurückgekehrt in ihr Heimatdorf nahe des explodierten Reaktors Tschernobyl. Das Dorf in der Todeszone ist ihre Heimat, ihr selbstbestimmtes Paradies.
"Das Gute am Altsein ist, dass man niemanden mehr um Erlaubnis fragen braucht - nicht, ob man in seinem alten Haus wohnen kann, und nicht, ob man die Spinnennetze hängen lassen darf." S. 14
Baba Dunjas Leben scheint frei von Zwängen und größeren Sorgen. Sie genießt jeden Tag, der ihr bleibt, hat losen Kontakt zu den auch nicht mehr jungen Menschen, die nach ihr in das Dorf zurückgekehrt sind und hält gelegentlich einen kleinen Plausch mit den Geistern der Verstorbenen. Baba Dunja interessieren die Geigerzähler nicht oder die Jodtabletten oder ihre Blutwerte. Sie hat mit allem abgeschlossen und möchte den Rest ihres Lebens friedlich und selbstbestimmt dort verbringen, wo die Uhren noch anders gehen und die Hektik der Welt außen vor bleibt. Lebenserfahren und altersweise lebt Baba Dunja genauso, wie sie es für richtig hält und fühlt sich niemandem gegenüber mehr verpflichtet oder verantwortlich. Einzig der Briefwechsel mit ihrer inzwischen in Berlin lebenden Tocher ist ihr noch wichtig.
"Wir sind den Menschen unheimlich. Sie scheinen zu glauben, dass die Todeszone sich an die Grenzen hält, die Menschen auf der Landkarte einzeichnen." S. 45
Rückkehr in die Todeszone (Bildquelle) |
"Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht einmal mehr zum Zähneputzen." S.62
Neben dem interessanten Gedankenexperiment, wie es wohl wäre, mit einem Komplettverlust von Zukunftsgedanken zu leben oder aber auch neben der kulturellen Steinzeit, in die einen dieses Buch versetzt, waren es vor allem die leisen Töne und der von Humor durchsetzte Schreibstil, die mich für die Erzählung eingenommen haben. Ein wenig fehlte mir hier der Tiefgang, vieles blieb lediglich angerissen, kam über den angedeuteten Status nie hinaus. Das war schade, denn gerne hätte ich einige Charaktere oder Entwicklungen weiter verfolgt. Doch insgesamt konnte mir diese leise und nüchterne aber trotzdem liebevolle Geschichte gefallen.
Alles in allem ein kleines, feines Buch - ebenso wie sein Hauptcharakter leise und ohne Sentimentalität, dennoch mit melancholischem Unterton und gleichzeitig durchsetzt von augenzwinkerndem Humor. Eine Mischung, die mir gefallen hat, der ich allerdings einige Seiten mehr gewünscht hätte.
© Parden
► Hier geht es zu einem interessanten Artikel in der FAZ (vom 18.09.2015) mit der Autorin über ihren Roman Baba Dunjas letzte Liebe: Alina Bronsky im Gespräch
► Hier geht es zu einer Fotostrecke von SpiegelOnline: Lubrichts Tschernobyl-Projekt: Geisterdörfer und Gasmasken (19.10.2009)
Alina Bronsky (* 1978 in Swerdlowsk, Sowjetunion; Pseudonym) ist eine deutsche Schriftstellerin. Aufgewachsen ist Bronsky nach eigenen Angaben auf der asiatischen Seite des Uralgebirges sowie in Marburg und Darmstadt. Ihr Vater ist jüdischer Abstammung und wanderte mit der Familie Anfang der 1990er Jahre als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Nach abgebrochenem Medizinstudium arbeitete sie als Werbetexterin und Redakteurin beim Darmstädter Echo. Alina Bronsky ist Mutter von vier Kindern. Der Vater ihrer ersten drei Kinder verunglückte im Januar 2012 tödlich in den Walliser Alpen. Sie lebt in Berlin-Charlottenburg mit Ulrich Noethen. Das Paar hat eine gemeinsame Tochter.
Ihr Debütroman Scherbenpark erregte großes öffentliches Interesse. Der Roman war in der Sparte „Jugendbuch“ (Kritikerjury) zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2009 sowie für den Aspekte-Literaturpreis nominiert. Er erschien als Theaterstück und wurde mit Jasna Fritzi Bauer in der Hauptrolle verfilmt. Bronskys zweites Werk Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2010. Ebenfalls auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis (2015) stand Baba Dunjas letzte Liebe. ► Quelle Text und Bild
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