Mittwoch, 10. März 2021

Würger, Takis: Noah - Von einem, der überlebte

EINS 

"Es war so. Ich war dabei.“

Wer war Noah Klieger? „Im Frühling des Jahres 2018 in Tel Aviv sitzt ein alter Mann unter einem Kumquatbaum im Garten eines Hochhauses und erzählt seine Geschichte. Sie geht so:“

Wenn auf dem blauen Leineneinband nicht stehen würde, dass das Buch „von einem, der überlebte“ handelt, könnten die Leserinnen und Leser irgendeine Geschichte erwarten, doch wir ahnen es, der Name, der Untertitel und Takis Würger, der Autor und der Ort, an dem er diesem alten Mann zuhört: Wir werden über den Holocaust und über die Shoah lesen oder hören.

Norbert Noah Klieger wurde am 31. Juli 1925 in Straßburg geboren, gestorben ist er am 13. Dezember 2018 in Tel Aviv. Ein Jude, ein Zionist, ein Untergrundkämpfer, ein Sportjournalist und ein Zeitzeuge. Er ist rum gekommen in der Welt und Noah Klieger hat erzählt. Er hat seine Geschichte erzählt und Takis Würger hat sie aufgeschrieben. 


Die Erzählung beginnt mit der Verhaftung eines Jungen in Belgien. Der Aufforderung des Polizisten in einem Wirtshaus mit auf die Toilette zu kommen, damit er nachsehen könne, ober der Junge ein Jude sein, beantwortet Norbert Noah Klieger mit: „Ich bin Jude...“ – Womit zweieinhalb Jahre begannen, die ihn durch das Grauen führten, welches heute als Holocaust bekannt ist und das die Juden schlicht Schoah nennen – die Katastrophe.

„Mayn kind, dayn tate iz gegangen in koymen“ sagt ein Häftling zu Isy, mit dem Noah in ein Lager gekommen ist.

Norbert Noah Klieger wird zwei Jahre an einem Ort verbringen, der überall in Welt bekannt ist und dessen Name für das Menschheitsverbrechen von deutschen Nationalsozialisten insbesondere steht: Auschwitz.

Klieger ist ein schlauer, ein aufgeweckter Junge, der bisher illegal mit dafür sorgte, dass jüdische Kinder das Land verlassen konnten, auch und vor allem nach Palästina, nach Eretz Israel. Wer hat sich schon getraut, nachdem er, abgemagert bis auf das Skelett, und nachdem ihn der Oberstabsarzt bei der Selektion in Richtung Tod gewiesen hatte, nach ein paar Schritten umzudrehen und dem SS-Arzt in dem weißen Kittel zu sagen: „Herr Oberstabsarzt, ich kann noch hart arbeiten. Ich bitte darum, dass ich noch ein wenig im Lager leben darf.“




Eigentlich beginnt die Geschichte genau hier, sie wäre nie geschrieben worden, wenn Noah die linke Tür passiert hätte... Der Oberstabsarzt wird im Alter von 68 Jahren bei Sao Paulo ertrinken. Sein Name lautet Josef Mengele.

So bleibt Noah am Leben, ob als Boxer, als Elektriker, beides Sachen, von denen er keine Ahnung hat, er findet Unterstützer, Freunde, klaut für sich und andere Lebensmittel und wird, als die Rote Armee nicht mehr weit steht, auf Transport geschickt. V2 bauen in einem Lager, welches Mittelbau Dora heißt. Dort ist er halt Feinmechaniker. Viele Jahre später wird er den jungen Journalisten, der ihm zuhört fragen, wie blöd man denn sein muss, wenn man solche Gefangene Wunderwaffen bauen lässt.

In Ravensbrück geht für Noah der Krieg und die Gefangenschaft zu Ende. 

„Mir zenen geratevet, dos zenen di rusn.“  




ZWEI. Noah geht nach Belgien zurück. Bei all den Erzählungen über Menschen, die wie Klieger diese Hölle überlebt haben und meist davon berichten, dass die Familie teilweise oder fast vollständig ums Leben kamen: Norbert sieht in der Straßenbahn eine Frau. Sie heißt Esther-Thekla Klieger. Auch der Vater hat Auschwitz ebenso überlebt.

DREI. Der nunmehr Zwanzigjährige geht den nächsten Weg und findet sich auf der EXODUS wieder, deren Geschichte diesmal nicht in einem Film und einem Roman erzählt wird, sondern von einem Augenzeugen und aktiv Mitarbeitenden. 

VIER. Noah wird zum Zeitzeugen. Er sieht manchen wieder, dem er begegnet ist auf dem Weg durch die Lager in einem Reich, welches zwar keinen Herrscher, aber einen Führer hatte. Und er erzählt. An vielen Stellen, in Deutschland. In Auschwitz, für das er keinen Führer braucht, wie die Nummer auf seinem Arm beweist. Er sorgt nicht nur für Betroffenheit, sicher sorgt er auch für Verstehen und fragt sich doch selbst:

„ Wie kann das alles jemand verstehen?“

„Das alles ist doch unmöglich. Wie kann das alles passiert sein?“

Er schreibt seine Geschichte auf. Er schenkt sie seiner Familie. Er erzählt sie Takis Würger, dem jungen deutschen Journalisten.

* * *

Die Erzählung. Robert Noah Klieger kann man im Internet begegnen. Hört man ihm zu, und hat man das Buch gelesen, bekommt man eine ganz leise Ahnung, was Takis Würger hörte. So wie er es aufgeschrieben hat, spiegelt es die Geschichte wieder, welche Noah zu erzählen hat. Viele sind in Tel Aviv gewesen und haben mit Klieger gesprochen. Doch Würger war nicht einfach so zu einem Interview bei dem alten Mann. Er hat Tage, Wochen, insgesamt zweieinhalb Monate bei ihm gesessen und zugehört. Gefragt und zugehört. Hört man, wie Noah die erwähnte Selektion im Rahmen einer Grafic - Novel - Darstellung erzählt und liest den Text, wie Würger ihn wiedergibt erkennt man ein wahrhaftiges Buch. Eines das erschüttert. Eines, welches wieder wachrüttelt, soviel man auch schon gelesen, gehört oder in Filmen gesehen hat. 


Die Wellen, deren Kämme die nächste grausame Begebenheit darstellen und die mal längere und dann wieder kürzere Amplituden aufweisen, lassen einen sinngemäß im Rhythmus des Buches atmen.

Und aufatmen, wenn am Schluss der alte Journalist auf ein langes und erfülltes Leben mit Momenten der Gefahr, des Leids und des Glücks zurück blickt.

„Was sollen wir machen, wenn Sie nicht mehr da sind, um uns in Vorträgen und an Schulen von Ihrem Leben zu berichten?‘ Klieger schaut kurz zum Fenster, er atmet durch, dann schaut er mir ins ins Gesicht und sagt: ‚Ich weiß es nicht.‘“

* * *

Die Anhänge. Takis Würger hat im ersten Anhang von dieser langen Begegnung mit Noah Klieger berichtet. Hat er erstmals im SPIEGEL von ihm gelesen und ist er ihm 2017 zum ersten Mal begegnet, so schreibt er im SPIEGEL vom 20.02.21 über diese Begegnung und das Buch. Dieser Bericht ist der Geschichte angefügt, die im letzten Lebensjahr Kliegers so aufgenommen wurde. Aus gutem Grund wie mir scheint, hat Würger diesen Anhang, diesen Artikel geschrieben, der kurz nach Erscheinen des Buches gedruckt wurde. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 

Sodann schreibt Alice Klieger, die Nichte Noahs über ihren Onkel, den sie in seinen letzten Lebensjahren auf Reisen begleitete. Sie schreibt auch von Begegnungen mit Würger und was dessen Arbeit für ihren Onkel etwas Besonderes war. Würger wurde von Klieger zum Pessachfest eingeladen und so saß der deutsche Journalist neben dem alten Sportjournalisten, der die jüdische Haggada für den Deutschen übersetzte. Für Alice Klieger bedeutet dieses Buch, „dass seine lebenslange Arbeit, seine Mission, den jüngeren Generationen von den Ereignissen während des Holocaust zu erzählen, fortgesetzt wird.“ Seine Erinnerungen, seine Geschichte wären Teil ihrer Geschichte. 

Im letzten Anhang beschreibt Sharon Kangisser Cohen, Chefredakteurin der Yad Vashem Studies, die am International Institute for Holocaust Research in Yad Vashem arbeitet, Würgers Arbeit so:

„Würgers kluge und einfühlsame Nacherzählung erweckt die Figuren zum Leben und macht sie uns vertraut – und da, den Leserinnen und Lesern vor Augen geführt werden.s trotz der entsetzlichen Situationen, in denen sie sich befinden.“

In ihrem sehr aufschlussreichen Text stellt Cohen dar, das die Komplexität des Bösen, gemeint sind Momente, in denen die Bewacher Freundlichkeit und Mitleid zeigen, neben den vorherrschenden „grenzenlosen sadistischen Grausamkeiten“ deutlich wird. Dem gegenüber stehen die britischen Soldaten, die mit Gewalt versuchten, die Juden auf der EXODUS an der Einreise nach Israel zu hindern. Grausamkeiten sind nicht nur auf den Nationalsozialismus beschränkt, ohne die in Konzentrationslagern erlebten, zu relativieren.





Im Anschluss geht sie auf die Art und Weise ein, mit der Holocaust-Überlebende wie Noah Klieger ihren Erlebnisse erzählen; die Geschichten blieben meist unverändert, aber manchmal, wichen sie von ihrem Skript ab, erzählen bisher nie Erwähntes und brechen unter der Last zusammen. Wie oft hat in der langen Zeit seiner Begegnungen mit Klieger Takis Würger solches erlebt?

* * *

Der Autor und sein Buch. Takis Würger habe sich mit den Anhängen, insbesondere denen von Alice Klieger und Sharon Cohen abgesichert. Das erklärt Marie Schmidt unter „An die Nachgeborenen" im Online-Portal der Süddeutschen Zeitung. Es war zu erwarten, das sogenannte Feuilleton reibt sich sofort am letzten Holocaust-Produkt von Takis Würger. Schmidt sieht Würgers Stil als wiederholt problematisch an und zitiert in kürzester Form  drei aufeinanderfolgende Hauptsätze: 

„Der Marsch dauerte zehn Tage. Nachts schlief Noah auf der Erde. Ab und zu schoss ein SS-Mann einem Menschen neben ihm in den Kopf.“ 

Schmidt schreibt weiter: „Die Verkürzung dient dem Schock, und um der Unmittelbarkeit willen geizt Würger viel stärker als Klieger in seinem eigenen Buch mit Kontextwissen, sodass man über die Vernichtungslager und im zweiten Teil über die Alija bet entweder schon alles wissen muss, um die Geschichte zu begreifen, oder viel googeln.“ Ja was denn sonst? Gerade ein Buch sollte zur weiteren Beschäftigung mit dem Stoff anregen und während der Holocaust noch präsent ist nach der Schulzeit, so sind es die Anfänge des Staates Israel und wie europäische Juden versuchten, nach Palästina zu kommen nicht. Es war nicht Zweck des Buches dies zu erläutern, Zweck war es eine Lebensgeschichte an die Nachwelt zu übergeben. Nein Frau Schmidt, es lässt die Verbrechen des 20. Jahrhunderts nicht abstrakt werden in den Augen der Nachgeborenen. Im Gegenteil. 

 In einer unglaublich arroganten Art und Weise schreibt Christoph Schröder in seiner Besprechung unter Deutschlandfunk.de „Je dramatischer die Ereignisse desto sternenklarer der Himmel“ von „beglaubigten Aussagen und kolportagehafter Fiktion... aufgedonnertem Pathos... und einem Vibrato der Selbsterregung“ in dem Würgers schriftstellerische Legitimation läge. 
Es ist schon fast ein Lob, wenn Schröder bemerkt, dass „Noah“ differenzierter betrachtet werden muss als „Stella“, der Roman, den Würger 2019 heraus brachte.

Womit ich kurz auf "Stella" eingehen muss, den Roman, den Würger vor zwei Jahren an die reale Stella Goldschlag anlehnte, die Berliner Jüdin, die untergetauchte Juden an die Gestapo verriet und deren Geschichte Würger zeitlich verschob und in weiten Teilen fiktiv erzählte.  Über Stella schrieb ich damals hier. Würgers Buch führte zu einem Aufschrei in der Presse. Es war ein völlig überzogener Aufschrei, der nun wiederum in den beiden genannten Artikeln Ausgangspunkt zu sein scheint, statt Robert Noah Kliegers Lebensgeschichte in den Vordergrund zu stellen.

Vielleicht hatte Takis Würger tatsächlich auch eine Art Absicherung im Auge mit den Anhängen zum Buch. Jedoch kann man einem Autor eine eigenen Erläuterung, ein Nachwort nicht ankreiden, welches hier notwendigerweise angefügt wurde, weil eben keine klassische Biografie vorliegt. Der Text Alice Kliegers gibt Würger nicht etwa Legitimation, nein, er unterstreicht den Willen sowohl des Erzählers und des Nacherzählers. Und Takis Würgers Stil, der tatsächlich durch solche Sätze wie von Schmidt hervorgehoben, wirkt, stellt die Art und Weise, wie sich Klieger in Interviews äußerte, wiedererkennend in den Raum. Die Ausführungen Cohens stammen aus berufenem Mund. Das kann ich nicht beweisen, jedoch sind die Ausführungen schlüssig und genaues Zuhören und  Lesen zeigen, dass Klieger ein Zeitzeuge ist wie andere auch. Einer, der äußerst lebendig und präzise artikulierend in den Videos erzählt. Ein Journalist und daher vielleicht besonders dazu berufen.

In der Jüdischen Allgemeine dagegen schreibt der Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München, Michael Brenner, davon, dass Erinnerungen auch mal täuschen können und eine Oral-History wie diese diversen Herausforderungen unterliegt. Ob also Klieger tatsächlich vor Mengele oder einem anderen SS-Arzt stand, und auf welchen Zeitraum (Ankunft) seine Häftlingsnummer weist, möge eventuell historisch ungenau sein, aber an der Grunderzählung nichts ändern. Es ist ein anderer Ton, den der Historiker anschlägt als die oben angeführten Journalisten.

Takis Würger, Sie sind angekommen. Sie haben gezeigt, wie man schwere Geschichte und Lebensgeschichten wirksam erzählen kann. Zwei aufeinanderfolgende Bücher die in ihrer Gegensätzlichkeit eins zeigen: Lebensgeschichten im Zusammenhang mit dem Holocaust muss man sich erarbeiten, schwerer als wahrscheinlich jede andere Erzählung, sicher auch vor allem als deutscher Journalist.




* * *

Gegen das Vergessen und ich. Auf die Geschichte des Flüchtlingsschiffes EXODUS stieß ich in Form des Romans von Leon Uris und im gleichnamigen Film. Einige Jahre später besuchte ich Israel im Rahmen einer Studienreise und ging durch Yad Vashem. Über all das habe ich im Blog geschrieben, so wie Anne über den Jungen im gestreiften Pyjama.  Hanas Koffer, die emotionale Reise eines Buches durch viele Bloggerhände, war dann bewusst gegen das Vergessen gerichtet und seit dem taucht diese Rubrik mit einer gewissen Regelmäßigkeit hier auf. Amos Oz will ich nicht vergessen und auch nicht die Geschichte Ernst Lossas in Nebel im August: Es sind nun 66 Beiträge, die diesen TAG bekommen haben.  Es ist ein breites Kaleidoskop und hier nicht nur mit dem Holocaust verbunden. 

NOAH – VON EINEM DER ÜBERLEBTE reiht sich sehr gut in diese Rubrik ein.

Einen großen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.


© Bücherjunge


1 Kommentar:

  1. Jetzt bedaure ich doch, dass ich dieser Leserunde abgesagt habe. Ein schöner Beitrag, Uwe.

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