Wer meine Lesegewohnheiten verfolgt, wird wissen, dass ich eher selten Bücher lese, die mehr als 500 Seiten haben. Auch hier habe ich anfangs gezögert, doch der Klappentext hat mich überaus neugierig gemacht, und so habe ich mich der Leserunde angeschlossen. Tatsächlich habe ich für die Lektüre recht lange gebraucht, doch lag das weniger am Seitenumfang, sondern eher an der langsamen Erzählung, die tiefe Einblicke in eine fremde Kultur gewährte. Habe ich die Lektüre bereut? Nein, keinesfalls. Dieser Roman der südkoreanischen Autorin Min Jin Lee hat mir außerordentlich gut gefallen...
Sunja und ihre Söhne leben als koreanische Einwanderer in Japan wie
Menschen zweiter Klasse. Während sie versucht, sich abzufinden, fordern
Noa und Mozasu ihr Schicksal heraus. Der eine schafft es an die besten
Universitäten des Landes, den anderen zieht es in die Spielhallen der
kriminellen Unterwelt der Yakuza.
Ein opulentes Familienepos über Loyalität und die Suche nach der eigenen Identität...
(Klappentext: dtv)
- Gebundene Ausgabe: 552 Seiten
- Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (21. September 2018)
- Sprache: Deutsch
- Übersetzung: Susanne Höbel
- ISBN-10: 3423289724
- ISBN-13: 978-3423289726
- Originaltitel: Pachinko
MENSCHEN ZWEITER KLASSE...
Pachinko-Halle in Tokio - Quelle: Wikipedia |
Wenn mich ein Roman sehr beeindrucken konnte, habe ich das
Gefühl, mindestens eine ebenso beeindruckende Rezension schreiben zu
müssen, um dem Leseerlebnis gerecht zu werden und anderen vermitteln zu
können, weshalb diese Erzählung eine unbedingte Leseempfehlung erhalten
muss. Wenn der Roman aber derart vielschichtig ist wie hier, sowohl von
den Handlungssträngen und Charakteren her als auch von den gelungen
eingeflochtenen Informationen und Botschaften - dann wollen mir die
geeigneten Formulierungen nicht wirklich einfallen. Und so sitze ich
hier auch noch Tage nach der letzten Zeile des Romans und fühle mich
etwas verzagt.
"Sie
sah nicht den Menschen in ihm, und Noa verstand, dass er sich das am
allermeisten wünschte: als Mensch gesehen zu werden." (S. 356)
Mit
Sunja, der Tochter eines koreanischen Fischers und seiner hart
arbeitenden Frau, beginnt dieser Roman. Selbst nur harte Arbeit kennend,
blüht das Mädchen auf, als sich ein reicher Mann für sie zu
interessieren beginnt. Als sie bemerkt, dass sie schwanger ist, freut
sie sich zunächst, doch als sie erfährt, dass der Mann bereits
verheiratet ist, weiß sie, dass diese Schwangerschaft Schande über sie
und ihre Familie bringen wird. Als Sunja die Gelegenheit erhält, nach
Japan zu gehen, ergreift sie diese und beginnt damit ein neues Leben.
Der
Leser begleitet Sunja durch den Roman und begegnet ihr immer wieder,
aber sie ist nur einer der Hauptcharaktere. Ihre Söhne Noa und Mozasu
wachsen in der fremden Kultur auf, die Bedingungen alles andere als
einfach - und müssen ihren eigenen Weg im Leben finden. Anpassen und in
der Masse aufgehen, seine Wurzeln versuchen zu verleugnen und unsichtbar
werden? Oder die Chancen nutzen, die Koreanern in Japan überhaupt
geboten werden, reich und unabhängig werden und damit nicht darauf
angewiesen sein, gesellschaftlich anerkannt zu werden? Die Söhne gehen
unterschiedliche Wege, und in beiden zeigt sich das Dilemma der
Wurzellosigkeit, der Problematik von 'Heimat', 'Zugehörigkeit', 'Identität'. Erkenntnisse, die wie ein Hintergrundrauschen erscheinen, die die Geschichte selbst aber nicht belasten.
In
Japan lebende Koreaner - eine vollkommen neue Welt, die sich mir mit
diesem Roman erschloss. Mit diesem Werk, an dem die Autorin zwanzig
Jahre lang gearbeitet, mit dem sie sich dreißig Jahre lang gedanklich
beschäftigt hat, gelingt es der in Seoul geborenen Min Jin Lee, auch dem
westlichen Leser die ihm fremdartig anmutende Kultur sowie die
gesellschaftlichen und historischen Hintergründe nahezubringen. Ein
Leben eng gepfercht in Konventionen, mit der Einteilung in Menschen
verschiedener Klassen sowie mit klar vorgegebenen Rollenbildern. Wissen,
das unaufdringlich in die Handlung eingeflochten wird, das manche
Ereignisse - wenn schon nicht nachvollziehbar - doch immerhin
verständlich werden lässt.
"...während
man in Japan alles Schwierige ertragen musste. Sho ga nai, sho ga nai.
Wie oft hatte er diese Worte gehört? Da kann man nichts machen." (S.
516)
Neben
der Problematik der Koreaner als Menschen zweiter Klasse, die kaum eine
Chance haben, diesem Status zu entkommen, richtet die Autorin auch ein
klares Augenmerk auf die Rolle der Frau in dieser Gesellschaft. Ihr Los
ist es, lebenslang zu leiden, und auch diesem Schicksal ist kaum zu
entrinnen. Beklemmende Szenarien tauchen so immer wieder auf, und doch
dominieren diese Hintergründe nicht, sondern das Familienepos als
solches steht im Vordergrund.
Die
ruhige Erzählung lässt sich Zeit, nimmt den Leser an die Hand,
schockiert durch manche Entscheidungen und Wendungen, deutet
Schicksalsschläge aber oft nur an und erspart so meist den Fall in ein
emotionales Tief. Eine überaus gelungene Mischung aus einer intelligent
und stimmig komponierten komplexen Generationen- und Familiengeschichte
mit interessanten Charakteren sowie aus einem historisch und
gesellschaftlich authentisch vermittelten Eindruck einer Kultur vom
anderen Ende der Welt.
Für mich ein Jahres-Highlight. Unbedingt lesenswert!
© Parden
Der dtv schreibt über die Autorin:
Min Jin Lee wurde 1968 in Seoul/Südkorea geboren und immigrierte, als sie acht Jahre alt war, mit ihrer Familie in die USA. Sie hat in Yale studiert und vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans als Anwältin gearbeitet. ›Ein einfaches Leben‹ stand auf der Shortlist des National Book Award und auf allen Bestsellerlisten der USA. Min Jin Lee lebt in New York.
► übernommen vom dtv
Das Buch habe ich auch schon ins Auge gefasst, aber nach deiner Rezension ist es nun ein MUST READ geworden! Ich kenne das gefühl, wenn man ein Buch gelesne hat, das einem vollkommen überzeugt hat und dann sitzt man vor der Rezi und weiß nicht, wie man diese so verfasst, dass der Leser weiß, dass es einem schwerst beeindurckt hat! Ich tu mir viel leichter, wenn ich eine Buch rezensiere, das mir weniger oder gar nicht gefalen hat ;)
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Martina
Ja, Verrisse fallen deutlich leichter - und machen zuweilen sogar Spaß... ☻ Ich wünsche Dir jedenfalls ein tolles Leseerlebnis mit diesem Buch!
LöschenLiebe Grüße,
Anne