Samstag, 8. Dezember 2018

Lee, Min Jin: Ein einfaches Leben

Dieses Buch wurde mir im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin als Rezensionsexemplar vom Verlag zur Verfügung gestellt, wofür ich mich ganz herzlich bedanken möchte!

Wer meine Lesegewohnheiten verfolgt, wird wissen, dass ich eher selten Bücher lese, die mehr als 500 Seiten haben. Auch hier habe ich anfangs gezögert, doch der Klappentext hat mich überaus neugierig gemacht, und so habe ich mich der Leserunde angeschlossen. Tatsächlich habe ich für die Lektüre recht lange gebraucht, doch lag das weniger am Seitenumfang, sondern eher an der langsamen Erzählung, die tiefe Einblicke in eine fremde Kultur gewährte. Habe ich die Lektüre bereut? Nein, keinesfalls. Dieser Roman der südkoreanischen Autorin Min Jin Lee hat mir außerordentlich gut gefallen...


Sunja und ihre Söhne leben als koreanische Einwanderer in Japan wie Menschen zweiter Klasse. Während sie versucht, sich abzufinden, fordern Noa und Mozasu ihr Schicksal heraus. Der eine schafft es an die besten Universitäten des Landes, den anderen zieht es in die Spielhallen der kriminellen Unterwelt der Yakuza.

Ein opulentes Familienepos über Loyalität und die Suche nach der eigenen Identität...

(Klappentext: dtv)
  • Gebundene Ausgabe: 552 Seiten
  • Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (21. September 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Susanne Höbel
  • ISBN-10: 3423289724
  • ISBN-13: 978-3423289726
  • Originaltitel: Pachinko










MENSCHEN ZWEITER KLASSE...


Pachinko-Halle in Tokio - Quelle: Wikipedia
Wenn mich ein Roman sehr beeindrucken konnte, habe ich das Gefühl, mindestens eine ebenso beeindruckende Rezension schreiben zu müssen, um dem Leseerlebnis gerecht zu werden und anderen vermitteln zu können, weshalb diese Erzählung eine unbedingte Leseempfehlung erhalten muss. Wenn der Roman aber derart vielschichtig ist wie hier, sowohl von den Handlungssträngen und Charakteren her als auch von den gelungen eingeflochtenen Informationen und Botschaften - dann wollen mir die geeigneten Formulierungen nicht wirklich einfallen. Und so sitze ich hier auch noch Tage nach der letzten Zeile des Romans und fühle mich etwas verzagt.


"Sie sah nicht den Menschen in ihm, und Noa verstand, dass er sich das am allermeisten wünschte: als Mensch gesehen zu werden." (S. 356)


Mit Sunja, der Tochter eines koreanischen Fischers und seiner hart arbeitenden Frau, beginnt dieser Roman. Selbst nur harte Arbeit kennend, blüht das Mädchen auf, als sich ein reicher Mann für sie zu interessieren beginnt. Als sie bemerkt, dass sie schwanger ist, freut sie sich zunächst, doch als sie erfährt, dass der Mann bereits verheiratet ist, weiß sie, dass diese Schwangerschaft Schande über sie und ihre Familie bringen wird. Als Sunja die Gelegenheit erhält, nach Japan zu gehen, ergreift sie diese und beginnt damit ein neues Leben.

Der Leser begleitet Sunja durch den Roman und begegnet ihr immer wieder, aber sie ist nur einer der Hauptcharaktere. Ihre Söhne Noa und Mozasu wachsen in der fremden Kultur auf, die Bedingungen alles andere als einfach - und müssen ihren eigenen Weg im Leben finden. Anpassen und in der Masse aufgehen, seine Wurzeln versuchen zu verleugnen und unsichtbar werden? Oder die Chancen nutzen, die Koreanern in Japan überhaupt geboten werden, reich und unabhängig werden und damit nicht darauf angewiesen sein, gesellschaftlich anerkannt zu werden? Die Söhne gehen unterschiedliche Wege, und in beiden zeigt sich das Dilemma der Wurzellosigkeit, der Problematik von 'Heimat', 'Zugehörigkeit', 'Identität'. Erkenntnisse, die wie ein Hintergrundrauschen erscheinen, die die Geschichte selbst aber nicht belasten.

In Japan lebende Koreaner - eine vollkommen neue Welt, die sich mir mit diesem Roman erschloss. Mit diesem Werk, an dem die Autorin zwanzig Jahre lang gearbeitet, mit dem sie sich dreißig Jahre lang gedanklich beschäftigt hat, gelingt es der in Seoul geborenen Min Jin Lee, auch dem westlichen Leser die ihm fremdartig anmutende Kultur sowie die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe nahezubringen. Ein Leben eng gepfercht in Konventionen, mit der Einteilung in Menschen verschiedener Klassen sowie mit klar vorgegebenen Rollenbildern. Wissen, das unaufdringlich in die Handlung eingeflochten wird, das manche Ereignisse - wenn schon nicht nachvollziehbar - doch immerhin verständlich werden lässt.

"...während man in Japan alles Schwierige ertragen musste. Sho ga nai, sho ga nai. Wie oft hatte er diese Worte gehört? Da kann man nichts machen." (S. 516)


Neben der Problematik der Koreaner als Menschen zweiter Klasse, die kaum eine Chance haben, diesem Status zu entkommen, richtet die Autorin auch ein klares Augenmerk auf die Rolle der Frau in dieser Gesellschaft. Ihr Los ist es, lebenslang zu leiden, und auch diesem Schicksal ist kaum zu entrinnen. Beklemmende Szenarien tauchen so immer wieder auf, und doch dominieren diese Hintergründe nicht, sondern das Familienepos als solches steht im Vordergrund.

Die ruhige Erzählung lässt sich Zeit, nimmt den Leser an die Hand, schockiert durch manche Entscheidungen und Wendungen, deutet Schicksalsschläge aber oft nur an und erspart so meist den Fall in ein emotionales Tief. Eine überaus gelungene Mischung aus einer intelligent und stimmig komponierten komplexen Generationen- und Familiengeschichte mit interessanten Charakteren sowie aus einem historisch und gesellschaftlich authentisch vermittelten Eindruck einer Kultur vom anderen Ende der Welt.

Für mich ein Jahres-Highlight. Unbedingt lesenswert!


© Parden


















Der dtv schreibt über die Autorin:

Min Jin Lee wurde 1968 in Seoul/Südkorea geboren und immigrierte, als sie acht Jahre alt war, mit ihrer Familie in die USA. Sie hat in Yale studiert und vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans als Anwältin gearbeitet. ›Ein einfaches Leben‹ stand auf der Shortlist des National Book Award und auf allen Bestsellerlisten der USA. Min Jin Lee lebt in New York.

übernommen vom dtv



2 Kommentare:

  1. Das Buch habe ich auch schon ins Auge gefasst, aber nach deiner Rezension ist es nun ein MUST READ geworden! Ich kenne das gefühl, wenn man ein Buch gelesne hat, das einem vollkommen überzeugt hat und dann sitzt man vor der Rezi und weiß nicht, wie man diese so verfasst, dass der Leser weiß, dass es einem schwerst beeindurckt hat! Ich tu mir viel leichter, wenn ich eine Buch rezensiere, das mir weniger oder gar nicht gefalen hat ;)
    Liebe Grüße
    Martina

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, Verrisse fallen deutlich leichter - und machen zuweilen sogar Spaß... ☻ Ich wünsche Dir jedenfalls ein tolles Leseerlebnis mit diesem Buch!
      Liebe Grüße,
      Anne

      Löschen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.