Mikke steht kurz vor dem Abitur. Nach außen wirkt er wie ein ganz normaler Teenager. Er hat eine Freundin, engagiert sich für die vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröten und kümmert sich aufopfernd um Sverre, der am Down-Syndrom leidet. Doch was wirklich in Mikke vorgeht, ahnt niemand in seinem Umfeld. Er zieht sich immer mehr zurück. Bis er keinen Ausweg mehr sieht ...
Ich halte das hier für eines der besten Jugendbücher dieses Jahres und ich bin mir sicher, dass es im Herbst zu den Nominierten des nächsten Jugendliteraturpreises gehört. Ganz ganz tolles Buch, ganz eingängig, große Literatur. (Deutschlandradio Kultur)
- Broschiert: 136 Seiten
- Verlag: mixtvision Verlag; Auflage: 1. (2. Februar 2012)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3939435473
- ISBN-13: 978-3939435471
- Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 14 Jahren
DIESES BUCH HAT MICH UMGHAUEN...
Mikke ist fasziniert von Meeresschildkröten... |
Mikke ist ein ganz normaler Teenager auf der Schwelle zum Erwachsenenleben. Er steht kurz vor dem Abitur, hat schon klare Studienpläne, versteht sich gut mit seinen Eltern, auch mit seinem Stiefvater, und liebt seine Freundin Siri. Manchmal unternimmt er etwas mit seinen Freunden, aber er verbringt seine Freizeit auch gerne mit Sverre, einem Jungen mit Down-Syndrom, um den er sich gelegentlich kümmert.
Von Kindesbeienen an interssiert sich Mikke für Reptilien, sein Lieblingsbuch als Kind war ein Bildband über Frösche, bis es komplett auseinanderfiel. Seit er eine Dokumentation im TV gesehen hat, ist Mikke nun auch von Meeresschildkröten fasziniert...
"Diese Reptilien existieren schon seit über zweihundert Millionen Jahren - aber heute gibt es nur noch sechs Meeresschildkrötenarten. Sie atmen mit Lungen. Ein einziger Atemzug reicht für eine halbe Stunde unter Wasser. Darüber hinaus haben sie die Fähigkeit entwickelt, über die Schleimhäute im Mund und Enddarm Sauerstoff zu absorbieren, so dass sie noch länger unter Wasser aushalten können. Süßwasserschildkröten mehrere Tage, Meeresschildkröten zehn Stunden, bei ausreichend hoher Temperatur und geringer Aktivität bis zu vierundzwanzig Sunden."
Diese Information steht in Mikkes Tagebuch, über das wir Mikke kennenlernen. Eine Zeitlang begleitet der Leser Mikke so sehr intensiv, erfährt was ihn so beschäftigt, wie er lebt. Doch plötzlich...
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Und hier kommt nun die große Schwierigkeit, die ich bei dem Verfassen dieser Rezension empfinde. Vielleicht sollte ich vorweg erwähnen, dass ich rein zufällig auf das e-book gestoßen bin - das Cover hat mich angezogen, und als ich sah, dass es nur recht wenige Seiten hat und ich es mir leihweise kostenlos herunterladen konnte, habe ich hier einfach mal den 'Blindflug' gewagt. Beim e-book gibt es häufig keinen Klappentext, und in dem Fall wusste ich tatsächlich überhaupt nicht, was da auf mich zukommt. Und deshalb vermutlich konnte mich das Buch so umhauen, denn was da kam, damit hätte ich wirklich nicht gerechnet.
Damit es anderen potentiellen Lesern ähnlich gehen mag, empfehle ich allen, die mit dem Gedanken spielen, dieses Buch zu lesen, vorab wirklich keine Rezensionen dazu zu lesen. Denn zwangsläufig wird hier zu viel verraten - auch wenn es sich dann immer noch lohnt, das Buch zu lesen. Denn es ist ein überaus intensives Buch, das einen nicht mehr aus den Fängen lässt, auch nach dem Lesen nicht... Wer das Buch also noch vor sich hat, kann an dieser Stelle die Entscheidung treffen, die Rezension nicht weiterzulesen.
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... doch plötzlich brechen die Tagebucheinträge ab. Plötzlich übernimmt seine Mutter die Erzählung. Voller Verzweiflung. Denn Mikke ist nicht mehr.
"In meinem Hals flattern eingesperrte Vögel herum. Sie flattern in der Dunkelheit mit ihren Flügeln. Schlagen gegen die Wände. (...) Sie können nichts sehen in der Dunkelheit. Können ihre Flügel nicht ausbreiten. (...) Orientierungslos flattern sie da drinnen herum. Panisch."
Nichts an den Tagebucheintragungen Mikkes hat darauf vorbereitet, dass er den Entschluss fassen könnte, sich umzubringen. Kein Hinweis auf seine große Einsamkeit oder seine Traurigkeit im Leben. Und auch sein Umfeld hat er nichts davon merken lassen, hinterließ auch keinen Brief, in dem er etwas erklärt hätte, nur eine letzte SMS an seine Mutter: 'Hdl'.
"Wir reden und reden. Ich rede. Von fünf Litern Blut. Fünf Litern Schreie. Fünf Litern Stille."
Marit Kaldhol schafft in diesen Passagen eine unglaubliche Eindringlichkeit der Gedanken und Gefühle, so dass man selbst die Verzweiflung der Mutter spürt, das Gefühl hat, keine Luft mehr zu bekommen, in Sprachlosigkeit und Einsamkeit zu verfallen, zu zersplittern. Alles ist wahrhaft authentisch, nachvollziehbar, mitfühlbar. Die Fragen, die Schuldgefühle, die Unfassbarkeit...
"Wieso war ich überhaupt nicht beunruhigt, zu verreisen und dich allein zurückzulassen? (...) Warst du einsam? Oder war es spontan? War es für dich genauso überraschend wie für uns? Wieso habe ich nicht gespürt, dass du einsam bist?"
Ich muss gestehen, dass mir hier oft die Zeilen vor den Augen verschwammen, derart intensiv waren die Gefühle, die mir da entgegenkamen, mich in ihren Sog zogen. Dabei erzählt die Mutter nicht nur von dem Leben und den vielen Fragen nach dem Selbstmord Mikkes, sondern auch viel von ihrem Sohn als kleinem Jungen, so dass das Bild runder wird, man meint, ihn immer besser zu kennen - und genauso ratlos vor seiner Entscheidung steht, wie seine Familie, seine Freunde.
Nach der längeren Passage von Mikkes Mutter gibt es noch einen weiteren Teil im Buch, in dem alle anderen wichtigen Personen aus Mikkes Umfeld noch einmal zu Wort kommen. Mikke hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, nun schreiben diejenigen einen, denen Mikke etwas bedeutet hat. Sein Vater. Sein Ziehvater. Seine Freundin. Seine Freunde. Und Sverre, der Junge mit dem Down-Syndrom.
"Das Leben birgt viele unheimliche Momente. Ein schwarzes Brunnenloch, das einen magnetisch anzieht. Plötzlich steht man am Rand. (...) Da helfen ein paar Arme, die einen festhalten, jemand, der sagt 'Hab keine Angst, alles wird gut!' Wenn man alleine ist, muss man versuchen, sich selbst zu umarmen. Oder um Hilfe rufen."
Jeder versucht auf seine Weise, mit dem tragischen Unglück fertig zu werden und sich von Mikke zu verabschieden. Sie schreiben sich ihre Gedanken und Gefühle von der Seele, auch wenn sie keine Erklärung mehr erhalten werden, ihnen die Antwort versagt bleiben wird. Denn derjenige, der ihnen die Antworten hätte geben können, ist tot. Mikke ist tot.
"Wir wollen leben, Mikke! Nicht nur wir anderen - du auch! Wie konntest du das vergessen? Warum wolltest du nicht mehr? Was ist dir durch den Kopf gegangen (...)? Tausendmal am Tag stelle ich mir diese Fragen. Aber am meisten wünschte ich mir, dass du hier wärst."
Damit gelingt es Marit Kaldhol, wirklich alle Perspektiven abzudecken, jeden zu Wort kommen zu lassen, den Leser spüren zu lassen, wie betroffen es alle Menschen im Umfeld desjenigen macht, wenn jemand solch eine Entscheidung trifft. Dieses Buch erzählt eine sehr, sehr berührende und sehr authentische Geschichte, schafft eine emotionale Erschütterung.
Der Schreibstil ist oftmals fast nüchtern, wirkt oft recht einfach mit kurzen Sätzen - weist dabei aber eine Eindringlichkeit auf, der man sich nicht entziehen kann. Depression und Selbstmord - diesen Themen nähert sich das Buch nicht allmählich an, sondern wirft den Leser mitten hinein. Genauso überraschend, wie für diejenigen, die wirklich von solch einer Entscheidung überrascht werden. Denn nicht immer sind die Anzeichen dafür deutlich, auch Mikke hat nur dezente Hinweise hinterlassen, die sich hinter seinen Tagebucheintragungen lediglich erahnen lassen. Im Nachhinein.
Keine Sorge
Das klärt sich
Niemals
Für mich ein ganz besonderes Buch, das mich auch noch lange nach dem Lesen beschäftigt, das nachhallt. Das Buch hat mich echt umgehauen, und man sollte sich darüber im Klaren sein, dass man mit einer wirklichen emotinalen Erschütterung fertig werden muss, wenn man sich für die Lektüre entscheidet...
Zurecht ist dieses Buch mit dem Literaturpreis des norwegischen Kulutsministeriums ausgezeichnet worden und war nominiert für den deutschen Jugendliteraturpreis 2013 (Preis der Jugendjury).
© Parden
Marit Kaldhol |
Marit Kaldhol arbeitete einige Jahre als Lehrerin und begann dann ihre künstlerisch-kreative Tätigkeit als Schriftstellerin. 1986 erschien ihr erstes Kinderbuch „Abschied von Rune“, das bisher in zehn Ländern verlegt und mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. 2010 erhielt Marit Kaldhol für „Allein unter Schildkröten“ den Literaturpreis des norwegischen Kultusministeriums.
► Quelle Text und Bild
Selbst bei einem "Zufallsfund" gräbst du beachtliche Bücher aus.
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