Freitag, 1. August 2025

Ilko-Sascha Kowalczuk mit „Freiheitsschock“ in Neustrelitz

Einer der „Kulturtempel“ in Neustrelitz ist die Alte Kachelofenfabrik mit der Fabrik-Scheune. Dort residiert der Verein für Kultur, Umwelt und Kommunikation e.V.  Eine aktuelle Veranstaltungsreihe heißt Ist unsere Demokratie zukunftsfähig?, eine andere Veranstaltung erhielt den Titel Kampf der Narrative.

In der Fabrik-Scheune war gestern der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk zu Gast, zu dem "Kampf der Narrative" gut passen würde. Mitgebracht hatte er seinen „Freiheitsschock“, nicht seinen, aber das Buch (hier im Blog) welches in kürzester Frist unmittelbar nach seinem Erscheinen fünf Auflagen erhielt. Selbstredend wollte ich ihn in natura hören…

Nein, eine Lesung wurde nicht daraus, nicht ein einziger Satz des Abends wurde aus dem aufgeschlagenen Buch entnommen, geschweige denn ein Absatz vorgelesen. 

Die Karten konnte man telefonisch bestellen, die Nachfrage war letztlich größer als das Platzangebot. Dass die Besucher gebeten wurden, ihre Namen in einer Liste einzutragen, hat vielleicht was mit Fragen der Einnahmen und Ausgaben bei Veranstaltungen des Vereins zu tun, am Ende interessanter wäre die Frage gewesen, wie die Besucherinnen und Besucher denn "zusammengesetzt" waren: Geburts- und Wohnort, und Alter (anonym natürlich).


Kowalczuk macht das, was er laut und deutlich in diesem Buch und immer wieder öffentlich vertritt. Der Berliner, geboren 1967, erzählt  von seinen Erfahrungen mit Familie in der DDR und erläutert eindringlich seine Auffassung vom Leben in unserer Demokratie. Diese zu erhalten geschieht durch Teilhabe, durch Mitmachen. Als Historiker hält er zwangsläufig Rückschau, was er betont, als aus dem Publikum gefragt wird, warum immer (auch heute) "von früher" geredet wird.

In den zwei Stunden antwortet der Autor auf die Fragen der Moderatorin, die etwas unvorbereitet wirkt, was man schon an mehrfacher falscher Aussprache des ukrainischen Namens merkt. Uwe Johnson wird dabei erwähnt, der einst über die DDR-Rückschau von Ex-DDR-Bürgern in der Bundesrepublik schrieb.

Narrative spielen eine Rolle, als er den Grund für die Fahrt der Züge mit den Ausreisewilligen von Prag nach Hof über das Territorium der DDR benennt: Das MfS wollte Erkenntnisse darüber gewinnen, was das eigentlich nun für Leute sind, die in den Reisezügen sitzen. Zu einer solchen Aussage führt nur jahrelange Recherche - aber der Gast ist Historiker. Er erzählt von der letztlich unglaublichen Geschwindigkeit, in der der 3. Oktober 1990 Wirklichkeit wurde, wo doch noch kurz vorher von "frühestens 1995" die Rede war. Und warum letztlich die Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes leider nicht in Frage kam.

Das er Oschmann und Hoyer erwähnt (im Blog hier), war zu erwarten, fraglich ist, wie bekannt die beiden polarisierenden Bücher dem gemischten Publikum (Durchschnittsalter so um die 50 - 60?) bekannt sind. Unruhe kommt auf, als das Wahlverhalten im Osten und die AFD thematisiert werden. Sehr deutlich wird er mit der Bemerkung, dass die Eltern der heute jüngeren AFD Wähler (21 % / +6 %) altersmäßig zu den "Baseballschlägern" der neunziger Jahren gehören, denen in Mölln und Rostock aus der "Mitte der Gesellschaft" Beifall gezollt wurde.

Von der rechten Seite im Saal hört man: "Was soll denn das, das kann man sich doch nicht anhören..."; der ältere Mann wird von einem Nachbarn allerdings ruhig gehalten. Kowalczuk hat dies vermutlich registriert, er geht ruhig darüber weg. Es ging um das "Sicherheitsversprechen" von Demagogen, die dieses mit einem Blick in die Vergangenheit statt in die Zukunft geben. 

Eine Besucherin erzählt davon, dass sie als Westdeutsche begeistert in die Feldberger Seenlandschaft gezogen ist, ihr aber jetzt auch Hass entgegen gebracht wird. Ein leicht zorniger Ruf aus den Reihen hinter ihr: "Das ist doch in Bayern und Baden-Würtemberg genauso!" nimmt Kowalczuk auf und erzählt freundlich, dass er sich mit seiner Berliner Schnauze in Bayreuth auch behaupten muss und erzeugt verhaltenes Lachen mit der Bemerkung, dass sich solches bei den Enkeln und Urenkeln bestimmt verlaufen wird.

Ein weiterer Besucher versuchte einen eigenen Rückblick und erwähnte das "Leseland DDR" - verblüffend (für mich), dass Kowalczuk nicht weiter auf die ideologischen Hintergründe der gewaltigen Buchproduktion in der DDR einging.

Am Ende gibt es Beifall für einen streitbaren Demokraten, der Freiheit und Demokratie auch so und vehement vertritt. Einer, der keinen Hehl daraus macht, dass er sich den Weg zur deutschen Einheit eher im Sinn der Bürgerrechtsbewegungen vorstellte, aber schnell begreifen musste, dass dem vieles entgegen stand. Und einer, der nicht nur zu einer "Lesung" seines Sachbuch - Bestsellers fährt, sondern gleich noch die völlig unzureichend unterstützte Gedenkstätte des Untersuchungsgefängnisses der MfS-Bezirksverwaltung Neubrandenburg besuchte. 

Der Freiheitsschock ist inzwischen so bekannt, dass er auch durch die Landeszentralen für politische Bildung angeboten und vertrieben wird, in Kürze ebenso durch die Bundeszentrale. Hier ist es, nicht nur, die Überzeugung, mit der der Autor spricht, die den anschließenden Buchverkauf ankurbelt, obwohl, nicht eine Zeile daraus gelesen wurde.

* * *

Fazit: Nie reicht die Zeit. Fragmente. Teilmengen. Podiumsdiskussionen seitens der Veranstalter schlecht vorbereitet. Wahrscheinlich unklar, mit welchen Reaktionen oder Fragen man rechnet. Und trotzdem wichtig und gut. Vielleicht spannend, welches Publikum heute hier, morgen dort, mal im Süden, mal im Osten, mal Nord, mal West im Saal sitzt. 

Die Frage, ob unsere Demokratie zukunftsfähig ist, würde ich unbedingt mit ja beantworten wollen. Positiv nehme ich mit, das die These von der "doppelten Diktatursozialisierung" diesmal keine Rolle spielte. Trotzdem muss man Demokratie lernen, die oben angesprochene Teilhabe funktioniert nur, wenn man sie versteht. Die ersten zehn Jahre hatte die Masse der Ex-DDR Bürger eher mit Existenzsicherung zu tun, wenig Zeit, die eigene politische Bildung zu entwickeln. Ging mir erst ebenso.

Wir kommen aber nicht umhin, Demokratie und ihre Möglichkeiten im Rahmen einer kapitalistischen Gesellschaft zu sehen. Die finanziellen Ressourcen und die finanziellen Interessen begrenzen die Möglichkeiten, weil sich bestimmte, wichtige, Forderungen nicht oder nicht schnell genug erfüllen lassen. Im Zuge von neu aufgelegten Kriegen, auch Handelskriegen (Zollstreit), werden soziale Vorstellungen schnell nach hinten verschoben, dies bringt Demokratiefeinden "Argumente".  Um so wichtiger wiederum sind solche Veranstaltungen.

© Der Bücherjunge 



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