Selbst wenn man die Ankündigung des Buches nicht gelesen hat, fällt einem das Thema mit Blick auf das Cover unmittelbar vor Augen. Der Berliner-Fernsehturm und das Hochhaus an der Weberwiese, welches allerdings nicht zwischen die Kongresshalle und das Haus des Lehrers am Alexanderplatz gehört. Kaum einer wird das Gesicht des Herrn in den besten Jahren dem Hermann Henselmann zuordnen, der an DER ALLEE einen großen Anteil hat. Gemeint ist die Stalinallee, die heute Karl-Marx-Allee heißt und vom Strausberger Platz bis zum Frankfurter Tor führt.
Die Damen hinter dem berühmten und etwas exzentrischen Architekten mit Hang zur Bauhaus-Tradition sind seine Frau Irene "Isi" und beider Tochter Isa. Über diese schreibt nun Florentine Anders, Enkelin von Herrmann und Isi, Tochter von Isa.
Architekturgeschichte gekoppelt mit der Geschichte einer Familie.
Inhalt:
Prolog 1960. Mit einem Autounfall beginnt das Buch, Ausgangspunkt für eine schwierige Familienerzählung. Dinge, über die nie gesprochen wurde, eine Verlobung, die sich liest wie zum Ausgang des 19. Jahrhunderts – Politik, sogar Ost-Westpolitik spielt da mit rein. Jähzorn und Gewalt und Geschwister mit ganz unterschiedlichen Rückblicken.
„Es sind Bausteine eines Lebens, die ich hin und her wende und für sie (die Mutter) zusammensetze, so wie sie zu passen scheinen, ohne Anspruch auf Wahrheit. Denn auch meine Mutter hat in ihrem Gedächtnis die unerklärlichen Leerstellen längst mit erfundenen Geschichten ausgemalt.“ (Seite 8)
Doch dann schickt die Autorin die Leserinnen und Leser erst einmal ins Jahr 1931, die Zeit, in der Isi einen etwas älteren Architekten kennen lernt. Das ist dieser Herrmann Henselmann. Bauen will der, modern bauen. Er kommt an bei reichen Leuten, auch wenn der Verdienst auf sich warten lässt. 1942 kommt Isa zur Welt, das fünfte Kind von acht plus eine Abtreibung ganz zu Beginn.
Die „Baubiografie“ liest man, wenn man einen schnellen Überblick will, am besten bei Wikipedia nach.
Ob die Stalinallee so bekannt wäre, wenn sie nicht mit den Demonstrationen der Bauarbeiter um den 17. Juni 1953 verbunden wäre? Frau Anders verknüpft das Datum mit Erlebnissen von Großmutter und Mutter. Das Thema „sozialistischer Realismus“ wird durch den Bau des Haus des Lehrers hervorgehoben und wir lesen, dass da ein Architekt als solcher arbeiten will, jenseits vor Stereotypen.
Henselmann hat gern viele bedeutende Leute um sich rum, die vielen Kinder wohnen selbst in der elterlichen Wohnung abseits von den Eltern. Der Baukünstler wird natürlich auf Brigitte Reimann (1963) aufmerksam, die Wohnungsbau und Industriebau in ihren Büchern behandelte. Erwähnt wird die Erzählung „Die Geschwister“.
Der Wohnungsbau: Die Wohnungen der Karl-Marx-Allee, des Weber-Hochhauses sind großzügig geschnitten und hell und modern. Für solche Wohnungen legt sich Henselmann, zeitweise im VEB Typisierung beschäftigt, auch mit Stadt und Partei an. Er will variabel bauen:
„Wir brauchen keine typisierten Wohnblöcke, bei denen die Wohnzimmer nur in die eine und die Eingänge nur in die andere Himmelsrichtung ausgerichtet sein können. Wir brauchen kleinere Elemente, die variabel sind, die Spontaneität zulassen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen angepasst werden können.. Mit der aneinandergereihten Aufstallung von Wohnblöcken ist nichts erreicht, schon gar nicht eine sozialistische Lebensweise.“ (Seite 199)
Die geschwungenen Häuserzeilen am Volkspark Friedrichshain / Leninplatz geraten viel zu teuer und bleiben eine Ausnahme.
So lernen Leserinnen und Leser „Bauen in der DDR“ im Zusammenhang mit einer großen in ihrer Art besonderen, widersprüchlichen, teils exzentrischen Familie kennen.
Eine Schwägerin ist bis 1966 mir Robert Havemann verheiratet, ein Freund Wolf Biermann. Als dieser ausgebürgert wird verweigert Hermann Henselmann die Unterschrift unter der Petition, die ihm Manfred Krug hinhält. Er ist zwar gegen die Ausbürgerung, kann aber den Sänger nicht leiden – erzählt die Enkelin.
Am Ende stellt die DDR-Regierung kurz vor der deutschen Einheit die Karl-Marx-Allee unter Denkmalschutz, Hermann Henselmann zweifelt am Sinn eines zwei Kilometer langen Baudenkmals. Im Jahre 1992 stellt er Überlegungen für ein neues modernes Zentrum von Berlin an. Soll das Berliner Stadtschloss wieder aufgebaut werden, da wo der Palast der Republik steht?
Florentine Anders macht die Leser mit einem gänzlich anderen Bild, einer anderen Vorstellung vertraut, die vom heutigen (aus meiner Sicht gelungenen Berliner Stadtschloss) entschieden abweicht: eine „zauberhafte Landschaft“.
1995 stirbt Hermann Henselmann kurz vor seinem 90. Geburtstag. Isi, die Großmutter und Isa, Florentines Mutter ziehen wieder ins Haus des Kindes an den Strausberger Platz. Die Großmutter sorgt für ein Kennenlernen der riesigen Familie. Und Onkel Andreas vertritt die Rechte des verstorbenen Vaters. Nun steht es fest: Der Ideengeber für den Turm der Signale (Fernsehturm) war Hermann Henselmann.
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Das Buch:
Wie erzählt man Geschichte? Baugeschichte UND DDR-Gschichte UND Familiengeschichte? Es sind immer kurze Episoden, denen die jeweilige Jahreszahl vorangestellt wird. Keine langen Ausführungen zu bestimmten Geschehnissen, sei es die Zeit des Nationalsozialismus, der Nachkriegsjahre, der noch jungen DDR mit bekannten Eckdaten. Immer geht es um ein Mitglied der Familie Henselmann, oft um Großvater Hermann und Großmutter Irene (Isi).
Hermann Henselmann ist kein sympathischer Held, Florentine anders ergreift Partei für die Mutter (Isa), welche Gewalt des Vaters erleben musste und zeitlebens Angst empfand, wenn sie das elterliche Haus oder Wohnung betrat.
Henselmann ist aber auch nicht der stalinistische Architekt, reduziert auf die Stalinallee. Vermutlich staunen viele Berliner und Berlinerinnen darüber, an welchen Projekten der Mann beteiligt war. Das City-Hochaus in Leipzig, der Jenaer Universitätsturm-Turm.
Beeindruckt hat mich, was die Enkelin zum Wohnungsbau ausführte, der Dresdner Blogger sieht die unterschiedlichen Neubaugebiete seiner Stadt vor sich und versteht plötzlich die wenigen, immergleichen Typen, sieht, dass unterschiedliche Bauzeiten unterschiedliche Gestaltung des Umfeldes und des Platzes ermöglichten. Es waren also nicht einfach nur Plattenbauten.
Ein sehr interessantes, kurzweiliges, zeitweise nachdenklich machendes Buch, ein generationsübergreifendes Porträt von Familie, Städten und Gesellschaft. Im dessen Mittelpunkt stehen Fragen nach Identität, Erinnerung und Veränderung. „Die Allee“ ist der Ausgangspunkt, von dem es zurück und vorwärts geht.
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Florentine Anders sitzt im Vorstand der Hermann-Henselmann-Stiftung.
- DNB / Galiani Verlag / 2025 / ISBN: 978-3-86971-320-5 / 351 S.
- Die Bilder der Collagen entstammen alle den jeweiligen Wikipedia-Seiten, außer das vom Jenaer Universitätsturm (Jentower) und die Kuppel des Berliner Fernsehturms.
© Der Dresdner Bücherjunge
bedankt sich beim Galiani-Verlag für das Rezensionsexemplar.
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