Gaea Schoeters’ Roman ist ein „ethischer Mindfuck“ (Dimitri Verhulst) – provokant, radikal und eine erzählerische Ausnahmeerscheinung. Am Ende bleibt die Frage: Was ist ein Menschenleben wert?
Gaea Schoetersʼ preisgekrönter Roman ist von einer außerordentlichen erzählerischen Wucht. Die Tiefenschärfe, mit der sie die Geräusche und Gerüche der Natur beschreibt, lässt einen sinnlich erleben, was einen moralisch an die Grenzen zwischen Richtig und Falsch führt.
Hunter, steinreich, Amerikaner und begeisterter Jäger, hatte schon fast alles vor dem Lauf. Endlich bietet ihm sein Freund Van Heeren ein Nashorn zum Abschuss an. Hunter reist nach Afrika, doch sein Projekt, die Big Five vollzumachen, wird jäh von Wilderern durchkreuzt. Hunter sinnt auf Rache, als ihn Van Heeren fragt, ob er schon einmal von den Big Six gehört habe. Zunächst ist Hunter geschockt, aber als er die jungen Afrikaner beim flinken Jagen beobachtet… (Verlagsbeschreibung)
EINE MORALISCH-ETHISCHE GRENZWANDERUNG...
Mag ich Jäger? Nö. Kann ich die verdrehte Arugumentation leiden, derzufolge Jagen Arten- und Naturschutz bedeutet? Nö. Weshalb also nun dieser Roman über die Großwildjagd?! Nun, der Klappentext deutet etwas an, das undenkbar scheint - oder vielleicht doch nicht? Meine Neugierde war jedenfalls geweckt.
"Deine westliche Moral ist ein Luxusprodukt, das man sich leisten können muss. Der Rest der Welt muss mit Pragmatismus auskommen." (S. 103)
Uff, und nun sitze ich hier, das Buch zugeklappt, die letzte Zeile gelesen - und der Kopf arbeitet weiter. Definitiv ein Roman, der einen gewaltig aus der eigenen Komfortzone herausschiebt, der fasziniert, zweifeln lässt, anekelt, und definitiv nicht gleichgültig lässt. Gaea Schoters denkt zuende, was postkoloniales Großherrentum für selbstverständlich hält.
Hunter White (schon der Name ist selbstverständlich Programm) ist ein wohlhabender weißer Amerikaner, der schon mit der Waffe in der Hand geboren wurde. Sein Vater und sein Großvater nahmen ihn von klein auf mit auf die Jagd, und so beherrscht er sein Handwerk. Fasane und Rehe interessieren ihn jedoch schon lange nicht mehr - Großwild muss es sein, Afrika ist sein Jagdgebiet. Die Big Five hat er schon nahezu vollständig erlegt, diesmal geht es auf die Jagd nach dem Spitzmaulnashorn, für das er endlich eine Jagdlizenz erhalten hat.
"Die Verschmelzung von Todesangst und Dominanz schenkt dem Jäger einen nahezu erotischen Genuss. Ein Höhepunkt, in dem sich jegliche Spannung, die sich vorher aufgebaut hat, in einem einzigen Augenblick entlädt. Die Befriedigung liegt nicht so sehr im Töten, sondern in der Unterwerfung der Beute: in der Bestätigung unserer Vorherrschaft über alles andere Leben." (S. 194)
Der Leser begleitet Hunter auf der Jagd nach dem Nashorn, und was ich nicht für möglich gehalten hätte: ich war fasziniert. Die Naturbeschreibungen, die Schilderungen von Farben, Gerüchen, Geräuschen - überaus bildhaft und eindringlich. Aber auch die Empfindungen bei der Jagd, die Spannung, die Angst, das Jagdfieber - so geschildert, dass man sich nahezu selbst in der Szene befindet. Hunter selbst ist durchaus kein sympathischer Genosse - aber er, der vieles von dem verkörpert, was ich abstoßend finde, war mir eben auch nicht von Grund auf zuwider. Allein schon diese Tatsache fand ich anhaltend verwirrend. Als Wilderer Hunter einen Strich durch die Rechnung machen und das Nashorn vor ihm erlegen, war die Enttäuschung nahezu greifbar - auch für mich.
Van Heeren als sein Jagdleiter und Freund weiß, dass er nun für einen adäquaten Ersatz sorgen muss. Und er macht Hunter einen Vorschlag, auf den dieser zunächst fassungslos reagiert. Die Big Six? Doch dann führt Van Heeren ihn in ein afrikanisches Dorf, zu einem sehr ursprünglich lebenden Stamm, der seine Traditionen noch lebt. Und Hunter beobachtet einen jungen Mann beim Jagen...
Gaea Schoeters geht hier an Grenzen - und darüber hinaus. Dabei lässt sie Argumente so geschickt einfließen, dass man sich sehr bewusst davon distanzieren muss, um nicht automatisch zustimmend zu nicken. Später fällt die Distanzierung leichter, aber auch da ist die Argumentation eine perfide. Die bestehenden Fakten - größtenteils hervorgerufen durch die Zeit der Kolonialisierung sowie der postkolonialen Zeit mit der Ausbeutung durch weiße Großmächte - schaffen an manchen Stellen eine derart desolate Lage, dass unglaubliche Handlungszwänge entstehen. Da kreiselt der moralische Kompass gewaltig. Traurig zu lesen, teilweise nur schwer auszuhalten. Aber die belgische Autorin geht noch weiter...
"Aber in dem Blick des Kudus war nur das Begreifen des nahenden Todes abzulesen gewesen: Das Tier hatte gespürt, wie das Leben aus ihm floss, verstanden, dass flüchten keinen Sinn hat, und sich dem Sterben hingegeben. Was in seinen Augen erlosch, war nur die Gegenwart. Das Hier und Jetzt. Das Ende seines Lebens war ein Übergang von atmen zu nicht atmen. Nicht mehr und nicht weniger..." (S. 198)
Ein fordernder Roman, eine Erzählung von radikaler Konsequenz. Ein interessanter, lesenswerter, überzeichneter, abstoßender, faszinierender, lehrreicher Roman, der unglaublich viele Themen anreißt, Spiegel vorhält, Fragen aufwirft. Manche Szenen empfand ich als unglaublich atmosphärisch, die Naturschilderungen immer wieder großartig. Insgesamt wirklich harter Tobak, manches fand ich auch wirr und anstrengend zu lesen, es bleibt passagenweise ein deutlicher Interpretationsspielraum - die erzählerische Wucht jedoch zieht sich durch den ganzen Roman. Und: er hinterlässt definitiv einen bleibenden Eindruck. Die Gewalt, Brutalität, Grenzenlosigkeit des Menschen, auch die Gegenpole der Sozialisierung, daneben die wilde Schönheit der Natur mit all ihren Gefahren - unglaublich gut herausgearbeitet.
Für mich absolut ein 5-Sterne-Buch - etwas, das ich bei der Thematik nie für möglich gehalten hätte!
© Parden
Das ist eine beeindruckende Rezension zu einem sicherlich beeindruckenden Buch. Den Titel werde ich mir auf jeden Fall merken.
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