Kurzmeinung:
JÄGER UND SAMMLER...
Wien Papiermüll |
Kein neuer Roman des Autors erwartet die Lesenden hier, sondern eine autobiographische Erzählung. Das "glückliche Geheimnis" Arno Geigers zieht sich ebenso wie sein Schreiben wie ein roter Faden durch das Buch. Ein jahrzehntelanges Doppelleben nennt es der Klappentext - und ja, es gab im Leben des Autors fast ein Vierteljahrhundert lang einen Aspekt, den er vor (fast) allen Menschen geheim hielt. Nichts wirklich Anrüchiges, aber etwas befremdlich mutet es zunächst schon an. Während heutzutage das Containern bekannt ist als eine Möglichkeit, Lebensmittel aus Abfalltonnen zu retten, tauchte Arno Geiger einmal pro Woche in langen Streifzügen in Mülltonnen mit Altpapier.
"Ich kann heute nicht mehr sagen, wie viele Seiten Papier (...) über meinen Schreibtisch flatterten, wie viel unwiederbringliche Zeit mir zwischen den Händen zerrann. Manchmal schlief ich nächtens am Fensterbrett der Küche ein. Und morgens schaute ich mich nervös nach den Jahren um, die ich vertan hatte. Im Umdrehen kam es mir vor als habe es in meinem Rücken Steine geregnet." (S. 25)
Dort gab es allerlei Interessantes zu entdecken: alte Bücher, die als Zufallsfund gelesen des Autors Horizont erweitereten und nach Restaurierungsarbeiten zudem gewinnbringend auf einem Flohmarkt verkauft werden konnten; Konvolute von Briefen und Tagebüchern, die in fremde Leben katapultierten, oder auch Sammlungen von Postkarten, die ebenfalls Geld einbrachten. Im Laufe seines Lebens gewann dieses Tauchen nach Altpapier stetig andere Bedeutungen. Kostenloser Leseschatz zu Beginn ebenso wie das Bestreiten des Lebensunterhalts von einem, der immer nur Schriftsteller werden wollte und sonst nichts. Später dann das Erkennen der Bedeutung des Erfassens von anderer Menschen Erleben und Wahrnehmen, um allgemein menschlichen Themen nahezukommen ("Ich begriff, dass das echte Leben gewöhnlich ist und trotzdem vielschichtig..." - S. 57). Und schließlich auch die Auswirkungen des Gelesenen - gerade der Briefe und Tagebücher - auf sein eigenes Schreiben. Bücher wie "Unter der Drachenwand" wären ansonsten womöglich gar nicht entstanden.
"In einem im Altpapier gefundenen Buch von Blaise Cendrars stieß ich auf die Verse: 'Und was ist denn schon ein altes Dokument? / (...) / Ein Trampolin. / Von dem man in die Höhe schnellt. / In die Wirklichkeit und in das Leben. / In das Herz der Sache.'" (S. 99)
Neben dem Geheimnis ("Dass ich mich jetzt Teilzeit in die Gosse warf, empfand auch ich insgeheim als Grenzüberschreitung nach unten." - S. 20) gewährt Arno Geiger auch Einblicke in das Leben, das er abseits der Altpapiercontainer führte. Das Leben des jungen Mannes, der Schriftsteller werden möchte - mit all seinen Ängsten und Zweifeln, Rückschlägen und Einblicken in die Verlagskultur. Das nicht unkomplizierte Leben in wechselnden Partnerschaften (M., O., K.) mit einem intensiven Sexualleben, Untreue und Streitereien bis hin zur wahren Liebe. Und das Leben als Sohn mit der zunehmenden Sorge um seine Eltern. Diese autobiografischen Anteile haben mir sehr gefallen, wobei ich die großzügigen Einblicke in Geigers Sexualleben nicht unbedingt gebraucht hätte. Aber die von ihm in den gefundenen Briefen und Tagebüchern bewunderte Offenheit im Schreiben wollte der Autor in seinem Buch offenbar ebenfalls praktizieren.
Es ist erstaunlich: wenn man sich darauf einlässt, erkennt man in jedem Schreiber und jeder Schreiberin eine Ähnlichkeit mit sich selbst, eine menschliche Familienähnlichkeit sozusagen. Beim Lesen war es, als unternähme ich eine Erkundungsreise auf der Suche nach Dingen, die in der Natur vorkommen, in der Natur des Menschen nämlich. (S. 224)
Neben den autobiographischen Anteilen fügen sich immer wieder und im Verlauf zunehmend allgemeine Betrachtungen ein - über das Schreiben, das Leben, die Bedeutung des Wegwerfens, die Erkenntnisse über eine Gesellschaft und ihren allmählichen Wandel anhand der Betrachtung ihres Mülls u.v.m. Stellenweise fand ich das durchaus interessant zu lesen, immer wieder jedoch empfand ich diese Einschübe aber als zu ausführlich und fast schon essayhaft - und damit anstrengend und außerhalb des Leseflusses. Zudem wirkte Geigers Kritik gegenüber alternden Autoren im Allgemeinen und Philip Roth im Besonderen auf mich eher überheblich denn souverän. Der Anspruch, mit dem Schreiben aufzuhören bevor die Bücher leblos werden, den finde ich allerdings nachvollziehbar. Aber ob man diese Einsicht immer voraussetzen kann?
Insgesamt habe ich das Buch mit gemischten Gefühlen gelesen. Ich habe definitiv lieber die autobiographischen Anteile gelesen - dieser Mischmasch aus Eckdaten seines Lebens und essayhaften allgemeingültigen Betrachtungen zu verschiedenen Aspekten hat mich leider nicht wirkich überzeugen können. Manche Gedankengänge waren ganz interessant, und schöne Sätze hätte ich mir zuhauf notieren können. Aber das reicht leider nicht für mehr Begeisterung für das Buch. Zum Glück empfindet das ja aber jede:r anders...
© Parden
Dort, wo es (vielleicht) wahrhaftig wird, das Autobiografische, wird es interessant... Der Bj
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