Mittwoch, 12. April 2023

Becker, Jurek: Jakob der Lügner (Hörbuch)

Die Rote Armee ist nur noch wenige hundert Kilometer entfernt, diese Meldung hat Jakob zufällig vernommen. Mit der Aussicht auf baldige Befreiung wird ein Morgen wieder vorstellbar, deshalb will Jakob die frohe Botschaft mit seinen Mitgefangenen teilen. Damit sie ihm glauben, behauptet er, ein Radio zu besitzen. Weil die Ghettobewohner nun täglich mehr erfahren möchten, bleibt Jakob nichts anderes übrig, als weitere gute Nachrichten zu erfinden – was eine Reihe tragisch-komischer Ereignisse provoziert. (Klappentext)
 
 
DNB / speak-low / 2016 / ISBN: 978-3940018236 / 515 Minuten
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Kurzmeinung:

 
Die Geschichte des Juden Jakob Heym, der im Ghetto einer polnischen Stadt zum Lügner wird, um anderen Hoffnung zu schenken: tragisch-komisch...
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 DAS RADIO...

 
Der Ich-Erzähler, Überlebender eines polnischen Ghettos, schildert die Geschichte des ihm bekannten Ghettobewohners Jakob Heym, der durch Zufall im deutschen Polizeirevier aus dem Radio Satzfetzen einer Meldung vernimmt, die fortan das Leben im Ghetto verändern sollte: 


"In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff 20 km vor Bezanika zum Stehen zu bringen." 


Jakob kennt diesen Ort nur vom Hörensagen, doch weiß er, dass Bezanika nicht weit vom Ghetto entfernt liegt. Zugleich wird ihm bewusst, dass diese Nachricht den Ghettobewohnern einen konkreten Anlass zum Durchhalten geben würde. Um die Glaubwürdigkeit seiner Informationen zu erhöhen, behauptet Jakob, über ein Radio zu verfügen, dessen Besitz natürlich verboten ist. Durch diese Notlüge gerät er in die Zwangslage, ständig neue Nachrichten erfinden zu müssen. Sein Lügengeflecht führt zu tragikomischen Situationen und das technische Medium wird zum Symbol von Verheißung und Gefahr. Einerseits schöpfen die Ghettobewohner wieder Hoffnung; sie schmieden Pläne, die Selbstmordrate geht gegen Null. Andererseits befürchten einige seiner Leidensgenossen, dass die Entdeckung des Radios durch die deutschen Besatzer alle gefährden könnte... 

Dies ist keine Geschichte vom Widerstand, sondern eine von einem Heldentum ganz anderer Art: eine melancholisch-heitere, leise, eine kunstvoll komponierte Erzählung ist es, die ohne Fantasie und Menschlichkeit nicht denkbar wäre und deren Held Jakob ein "Lügner aus Barmherzigkeit" ist. Brutalität, Transporte, Menschenverachtung, Angst und Hoffnungslosigkeit - diese furchtbaren Aspekte werden hier durchaus angerissen, stehen aber nicht derart im Mittelpunkt wie andere Erzählungen, die das Leben in einem jüdischen Ghetto während des Zweiten Weltkrieges thematisieren. Hier steht ganz im Gegenteil das Schöpfen von Hoffnung im Zentrum, der Traum von einem (Über-)Leben, das Denken einer Zukunft...

Durch den im Nachhinein berichtenden Ich-Erzähler wirkt der Roman eher distanziert, selbst heftige Ereignisse werden dadurch erträglich, und doch gibt es einzelne berührende Szenen, die die Distanz durchberchen. Die Bedeutung von Hoffnung, Fantasie und Menschlichkeit gerade auch in furchtbaren Zeiten wird hier leise aber eindringlich vor Augen geführt... Die verschiedenen Menschentypen werden hier in wenigen Strichen skizziert, die Mutigen und die Verzagten, die Loyalen und diejenigen, die sich heraushalten und wegsehen, diejenigen, denen Menschlichkeit und Würde wichtig sind und die anderen, denen alles egal ist. Wie im normalen Leben eben auch, nur hier auf eine beklemmende Situation zugeschnitten und dadurch um so deutlicher zutage tretend.

Das Ende dann - doch halt. Es gibt hier nicht "das Ende". Sondern es gibt zwei mögliche Enden. Und es ist an den Lesenden zu entscheiden, welche Version wohl die passendere sein mag. Ich hätte mir vielleicht noch ein drittes Ende gewünscht - aber wie wir sehr wohl wissen: das Leben ist kein Wunschkonzert. Leider.

Jurek Becker, der von 1939 bis 1945 im Ghetto in Lodz aufwuchs und später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert wurde, weiß ganz sicher, wovon er hier schreibt. Um so schöner, dass er hier in seinem 1969 erstmals erschienenen Debüt nicht das Unmenschliche und die Gräuel in den Vordergrund stellt, sondern die verbleibenden positiven Möglichkeiten. Die wundervolle Verfilmung von 1999 mit Robin Williams und Armin Müller-Stahl weist im Vergleich zum Roman einige künstlerische Freiheiten und Veränderungen auf, vermittelt die wesentliche Botschaft aber ebenso gut.

August Diehl liest die hier vorliegende ungekürzte Hörbuchfassung (8 Stunden und 28 Minuten) nuanciert und transportiert die Gefühle und die Situationen mit angenehmer Stimme punktgenau. Diese Stimme führt durch die Geschichte und erzeugt an den richtigen Stellen Gänsehaut. 

Ein unbedingt empfehlenswerter Roman auch gegen das Vergessen!


© Parden

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Jurek Becker wurde am 30. September 1937 in Lodz/Polen geboren und starb am 14. März 1997 in Sieseby/Schleswig-Holstein. Von 1939 bis 1945 wuchs Becker im Ghetto in Lodz auf und wurde später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert. 1945 siedelte er in den Ostteil Berlins über, wo er von 1957 bis 1960 Philosophie an der Humboldt-Universität studierte. 1960 wurde Becker aus politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen und ging an die Filmhochschule Babelsberg. Becker ist Autor zahlreicher Drehbücher. 1969 wurde sein erster Roman veröffentlicht – Jakob der Lügner wurde weltbekannt. Jurek Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold und dem Bundesverdienstkreuz. (Quelle: Suhrkamp)
 
 
 

1 Kommentar:

  1. Zwei mal verfilmt. Die erste Verfilmung 1974 brachte dem Film die einzige Oscar-Nominierung eines DDR - Filmes.

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