Kurzmeinung:
DAS RADIO...
"In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff 20 km vor Bezanika zum Stehen zu bringen."
Jakob kennt diesen Ort nur vom Hörensagen, doch weiß er, dass Bezanika nicht weit vom Ghetto entfernt liegt. Zugleich wird ihm bewusst, dass diese Nachricht den Ghettobewohnern einen konkreten Anlass zum Durchhalten geben würde. Um die Glaubwürdigkeit seiner Informationen zu erhöhen, behauptet Jakob, über ein Radio zu verfügen, dessen Besitz natürlich verboten ist. Durch diese Notlüge gerät er in die Zwangslage, ständig neue Nachrichten erfinden zu müssen. Sein Lügengeflecht führt zu tragikomischen Situationen und das technische Medium wird zum Symbol von Verheißung und Gefahr. Einerseits schöpfen die Ghettobewohner wieder Hoffnung; sie schmieden Pläne, die Selbstmordrate geht gegen Null. Andererseits befürchten einige seiner Leidensgenossen, dass die Entdeckung des Radios durch die deutschen Besatzer alle gefährden könnte...
Dies ist keine Geschichte vom Widerstand, sondern eine von einem Heldentum ganz anderer Art: eine melancholisch-heitere, leise, eine kunstvoll komponierte Erzählung ist es, die ohne Fantasie und Menschlichkeit nicht denkbar wäre und deren Held Jakob ein "Lügner aus Barmherzigkeit" ist. Brutalität, Transporte, Menschenverachtung, Angst und Hoffnungslosigkeit - diese furchtbaren Aspekte werden hier durchaus angerissen, stehen aber nicht derart im Mittelpunkt wie andere Erzählungen, die das Leben in einem jüdischen Ghetto während des Zweiten Weltkrieges thematisieren. Hier steht ganz im Gegenteil das Schöpfen von Hoffnung im Zentrum, der Traum von einem (Über-)Leben, das Denken einer Zukunft...
Durch den im Nachhinein berichtenden Ich-Erzähler wirkt der Roman eher distanziert, selbst heftige Ereignisse werden dadurch erträglich, und doch gibt es einzelne berührende Szenen, die die Distanz durchberchen. Die Bedeutung von Hoffnung, Fantasie und Menschlichkeit gerade auch in furchtbaren Zeiten wird hier leise aber eindringlich vor Augen geführt... Die verschiedenen Menschentypen werden hier in wenigen Strichen skizziert, die Mutigen und die Verzagten, die Loyalen und diejenigen, die sich heraushalten und wegsehen, diejenigen, denen Menschlichkeit und Würde wichtig sind und die anderen, denen alles egal ist. Wie im normalen Leben eben auch, nur hier auf eine beklemmende Situation zugeschnitten und dadurch um so deutlicher zutage tretend.
Das Ende dann - doch halt. Es gibt hier nicht "das Ende". Sondern es gibt zwei mögliche Enden. Und es ist an den Lesenden zu entscheiden, welche Version wohl die passendere sein mag. Ich hätte mir vielleicht noch ein drittes Ende gewünscht - aber wie wir sehr wohl wissen: das Leben ist kein Wunschkonzert. Leider.
Jurek Becker, der von 1939 bis 1945 im Ghetto in Lodz aufwuchs und später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert wurde, weiß ganz sicher, wovon er hier schreibt. Um so schöner, dass er hier in seinem 1969 erstmals erschienenen Debüt nicht das Unmenschliche und die Gräuel in den Vordergrund stellt, sondern die verbleibenden positiven Möglichkeiten. Die wundervolle Verfilmung von 1999 mit Robin Williams und Armin Müller-Stahl weist im Vergleich zum Roman einige künstlerische Freiheiten und Veränderungen auf, vermittelt die wesentliche Botschaft aber ebenso gut.
August Diehl liest die hier vorliegende ungekürzte Hörbuchfassung (8 Stunden und 28 Minuten) nuanciert und transportiert die Gefühle und die Situationen mit angenehmer Stimme punktgenau. Diese Stimme führt durch die Geschichte und erzeugt an den richtigen Stellen Gänsehaut.
Ein unbedingt empfehlenswerter Roman auch gegen das Vergessen!
© Parden
Zwei mal verfilmt. Die erste Verfilmung 1974 brachte dem Film die einzige Oscar-Nominierung eines DDR - Filmes.
AntwortenLöschen