Freitag, 4. Juni 2021

Schubert, Helga: Vom Aufstehen

Ein Jahrhundertleben – verwandelt in Literatur

Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt Helga Schuberts Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. In kurzen Episoden erzählt Helga Schubert ein deutsches Jahrhundertleben – ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Als Kind lebt sie zwischen Heimaten, steht als Erwachsene mehr als zehn Jahre unter Beobachtung der Stasi und ist bei ihrer ersten freien Wahl fast fünfzig Jahre alt. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter, einem Leben voller Widerstände und sich selbst.

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse...

 

 

 

  • Herausgeber : dtv Verlagsgesellschaft (18. März 2021)
  • Sprache : Deutsch
  • Gebundene Ausgabe : 224 Seiten
  • ISBN-10 : 3423282789
  • ISBN-13 : 978-3423282789

 

 

Ein Buch, zu dem ich ohne die Leserunde bei Whatchareadin vermutlich nicht gegriffen hätte. Und was wäre mir da entgangen! Ich kannte bislang kein Werk der ostdeutschen Autorin, die noch keinen Roman verfasst hat, sondern immer Kurzgeschichten - so auch hier. Und auch wenn mir nicht jede einzelne der 29 Erzählung gleichermaßen zusagte, so gab es hier von mir die Höchstwertung. Die leisen Geschichten überraschen mit Kippmomenten und Widersprüchlichkeiten und sind oft pointiert auf den letzten Satz zugeschrieben. Große Kunst!











WENN DU DOCH DAMALS BEI DER FLUCHT GESTORBEN WÄRST…


© Parden

Kurzgeschichten! Das ist ja immer so ein Ding, eine Kunst für sich. Und noch dazu das Buch einer Preisträgerin – im Vergangen Jahr gewann Helga Schubert mit 80 Jahren den Klagenfurter Ingeborg Bachmann Preis. Erfahrungsgemäß tue ich mich mit den Werken von Preisträgern oft schwer, schreiben die doch meist wenig erbaulich für die gemeine Leserschaft, sondern zeichnen sich vielmehr durch Besonderheiten im Aufbau, dem Schreibstil, des Themas aus, womit ich persönlich meistens wenig anfangen kann. 

Nicht so aber hier. Die 29 Erzählungen, die zumeist mit wenigen Seiten auskommen, sind stilistisch eher einfach geschrieben, mit kurzen Sätzen und allgemeinverständlichem Vokabular – und doch merkt man jedem einzelnen Wort an, wie gefeilt und geschliffen es eingefügt wurde. Manche Erzählungen wirken fast eher wie Prosagedichte, und tatsächlich erscheint manches sehr poetisch.  Die Geschichten überraschen mit Kippmomenten und Widersprüchlichkeiten und sind oft pointiert  auf den letzten Satz zugeschrieben.

Helga Schubert, die, wie sie in einem Interview verriet, nur nachts schreibt, wenn alles dunkel ist und niemand etwas von ihr will, durchdenkt die Themen ihrer Erzählungen lange, manchmal jahrelang, bevor sie sie zu Papier bringt. Das Schreiben bedeutet für sie nicht das Aufarbeiten von schwierigen Situationen, sondern ist quasi die Essenz dessen, der Endpunkt – alles ist im Kopf verarbeitet, bevor das erste Wort zu Papier gebracht wird.

„Ich schreibe nicht, um was loszuwerden, sondern um ein Kunstwerk zu schaffen…“ (Quelle: Interview)


Das erklärt vermutlich auch die Fähigkeit, selbst zu bedrückenden Lebensthemen eine Distanz zu wahren, die in den Erzählungen deutlich wird. Zumeist fließen hier in die Geschichten auch autobiografische Anteile ein, was das Buch zu einem sehr persönlichen macht. Gleichzeitig gibt es in den sehr genauen, detailgeschliffenen Schilderungen von Situationen und Gefühlen aber auch eine große Allgemeingültigkeit, so dass man sich beim Lesen angesprochen und berührt fühlt. Mir erging es jedenfalls so.

Die Erzählungen sind nicht chronologisch angeordnet, sondern schwanken zwischen Kindheitserinnerungen und dem Erwachsenenleben hin und her, teilweise zu DDR-Zeiten (die Mauer fiel, als Helga Schubert 49 Jahre alt war), aber auch danach bis hin zur Gegenwart. Auch das Alter wird nicht ausgespart. Es gibt wiederkehrende Themen: der gefallene Vater, den die Autorin so gar nicht kennenlernen konnte, die friedvolle Zeit bei der Großmutter väterlicherseits als Kind, die strenge und offenbar auch harte Mutter („Wenn du doch damals nach der Flucht gestorben wärst.“ S. 150), die Drangsalierungen in der DDR, das Gefühl von Bedrohung und der Mut, der diesem Gefühl entgegengesetzt wurde, trotz allem, die Auflösung der Grenzen und das Danach, das Leben mit einem pflegebedürftigem Partner im Hier und Jetzt u.a.m.

Ich möchte jetzt nicht so tun, als hätten mich alle Erzählungen gleichermaßen angesprochen. Mit einer Geschichte konnte ich tatsächlich z.T. gar nichts anfangen, da erschloss sich mir der Zusammenhang nicht. Gelegentlich werden Themen und Zusammenhänge nur angedeutet, und wenn man sich mit der Deutsch-Deutschen Geschichte nicht auskennt, wird man wohl die Internetsuche bemühen müssen, um die Bedeutung der Erzählung nachvollziehen zu können. 

Was mich an den Erzählungen aber fasziniert hat, ist der leise, oft zart-melancholische Ton, das Fehlen von jeglichem Pathos, die Gefühle, die trotz des distanzierten Schreibstils deutlich zwischen den Zeilen mitschwingen. Dabei klagt Helga Schubert niemals offen an, ihre Verwunderung, Verbitterung, Traurigkeit klingen an, geraten aber eben nie „pathetisch“. Ich mochte, wie mich manche Passagen unerwartet berühren konnten, schlucken oder plötzlich auflachen ließen, denn ja, auch ein zynisch-trockener Humor scheint der Autorin nicht fremd zu sein. Deutlich wird in den Erzählungen aber auch die Stärke der Autorin, ihre Reife, die dem Leben, dem Alter und ihrer Ausbildung als Psychologin geschuldet sein dürften, der unbedingte Wille, der Mut, der Trotz, das Dennoch in vielen Situationen, aber auch ein Annehmenkönnen und Friedenschließen mit Dingen, die nicht zu ändern sind.

Ein längeres Zitat aus der Geschichte „Alt sein“ kann das vielleicht verdeutlichen:


„Ich komme beim Älterwerden auch langsam aus der Zukunft an, ich nehme Abschied von den Aussichtstürmen, die ich nie besteigen, den warmen Meeren, in denen ich nie baden werde (…) Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz. Mein unveräußerlicher. Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“ (S. 170)


Ich hoffe, dass ich das eines Tages auch so sehen kann… 

Für mich ist dieses Buch aus 29 Erzählungen tatsächlich ein besonderes. Leise im Ton, nicht anklagend, aber doch deutlich benennend, lässt Helga Schubert den Leser / die Leserin ein wenig in ihr Leben blicken, in das was für sie bedeutsam ist, in ihre Erinnerungen Gedanken und Empfindungen, in kleine Dinge ihres Alltags, aber auch in Verletzungen und nicht zu vergessen auch in ihren Humor. Definitiv ist das ein Buch, was bei mir bleiben darf - es hat mich auf ganz eigentümliche Weise immer wieder berührt.


© Parden 





 

 

 

 

Ein interessantes Interview mit der Autorin:

 

 

 

 

 

 

 

 

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

Quelle: dtv

 

 

2 Kommentare:

  1. Bin kein Geschichten Fan. Und dann bin ich gespannt, wie lange man Autoren hierzulande noch das Prädikat "ost- oder westdeutsch" anhängen muss und sie zu erklären...

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    1. In dem Fall ist das Prädikat aber nicht unerheblich, da gerade die Zeit in der damaligen DDR zu den eindringlichen Erlebnissen der Autorin gehört. Heutzutage finde ich diese Bezeichnungen höchstens noch zur geografischen Orientierung wichtig - man sagt ja auch norddeutsch und süddeutsch, allerdings ohne "Beigeschmack"...

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