EIN AUTOR ERMITTELT...
Hotel in den Schweizer Alpen (Quelle: Pixabay) |
Erster Satz: „Es war halb sieben Uhr früh.“
Außer „Die Geschichte der Baltimores“ habe ich bislang jeden Roman von Joël Dicker gelesen oder gehört. Nach begeisterten fünf Sternen für „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ gab es für „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ nur drei Sterne von mir, da es für mich trotz des eingängigen Schreibstils und des vielschichtigen Aufbaus doch einige Kritikpunkte gab. Sehr gespannt war ich daher nun auf Dickers neuesten Roman, dem ich nach einiger Überlegung jetzt knappe vier Sterne vergeben kann.
Auch diesmal präsentiert Joël Dicker einen vielschichtig angelegten Roman. Zunächst verblüfft der Autor den Hörer, die Hörerin, indem klar wird, dass er sich (sogar namentlich) selbst in die Erzählung geschrieben hat. Er ist der vielversprechende Autor, der seinen Urlaub im vornehmen Hotel Palace de Verbier in den Schweizer Alpen verbringt und gemeinsam mit einem anderen Hotelgast über das Geheimnis von Zimmer 622 stolpert. Aus einer flüchtigen Idee wird schon bald Ernst: die beiden versuchen, eben dieses Geheimnis zu ergründen. Parallel zu den sich erweiternden Erkenntnissen konstruiert Dicker seinen neuen Roman, der damit die Fortschritte der privaten Ermittlungen dokumentiert.
Die Erzählung folgt den Bemühungen Dickers und der energischen Scarlett Leonas, nicht nur herauszufinden, weshalb es das Zimmer 622 im Palace de Verbier heute nicht mehr gibt, sondern auch, was genau sich dort vor einigen Jahren zutrug. Ein Mord ist geschehen, so viel ist schnell klar, doch der Fall wurde nie aufgeklärt. Nun werden alte Spuren wieder aufgenommen, es wird das Gespräch mit möglichen Beteiligten und Zeugen gesucht, Schlüsse werden gezogen – und oft genug auch wieder verworfen. Der Hörer, die Hörerin folgt dieser Spurensuche und unterliegt damit zwangsläufig denselben Irrtümern und vermeintlichen Erkenntnissen wie Dicker selbst.
Der Roman taucht dabei tief in die Vergangenheit ein. Erzählt wird nicht nur von dem Geschehen der Tage vor dem Mord und der Mordnacht selbst, sondern immer wieder werden auch Ereignisse präsentiert, die noch viel länger zurückliegen. Dadurch gewinnen die Charaktere, die für den Mordfall von Bedeutung sind, an Tiefe, da die vergangenen Ereignisse sich auf diese beziehen. Wechselnde Perspektiven und Zeitebenen bilden dabei ein geschickt konstruiertes Geflecht, in das der Hörer, die Hörerin zunehmend verwickelt wird. Die zahlreichen unerwarteten Wendungen halten die Neugierde wach, und auch wenn der Roman beileibe nicht vor Spannung strotzt, hat er mich gut unterhalten.
Es gibt nicht wenige Rezensenten:innen, die das neueste Werk von Joël Dicker als langweilig und als Enttäuschung bezeichnen, die Charakterzeichnungen als flach und holzschnittartig, die Dialoge als hölzern, die Geschichte als zu konstruiert. Und ja, ich kann die Kritikpunkte teilweise nachvollziehen. Dicker lässt sich sehr viel Zeit mit seiner Erzählung, die Wendungen sind nicht immer ganz glaubwürdig, manche Wortwechsel haben auch mich stutzen lassen, und bei der Charakterzeichnung der Romanfiguren sind auch manche Klischees eingeflossen. Und trotzdem habe ich das Hörerlebnis genossen, zumal Torben Kessler als Sprecher die ungekürzte Hörbuchversion (18 Stunden und 54 Minuten) versiert und unaufgeregt liest, wodurch ich immer wieder in die Geschichte eintauchen konnte wie in ein wohltuendes Bad…
Sicher ist es schwierig, nach einem absoluten Bestseller („Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“) an einen solchen Erfolg anzuknüpfen – zwangsläufig wird jedes weitere Werk an diesem begeisternden Roman gemessen. Was man Joël Dicker in jedem Fall attestieren kann, ist seine Begabung, Geschichten zu konstruieren und zu erzählen. Schön fand ich auch, dass der Autor in diesen Roman auch immer wieder seine freundschaftliche Bindung zu seinem inzwischen verstorbenen Verleger Bernard de Fallois einfließen ließ und dass der Roman damit auch eine angenehm präsentierte Hommage an diesen darstellt.
Ein intelligent konstruierter Roman, der einen bis zum Ende an der Nase herumführt, auf dessen langsames Erzähltempo man sich aber einlassen muss, um ihn wirklich genießen zu können...
© Parden
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