Sonntag, 20. Juni 2021

Röder, Britta: Das Gewicht aller Dinge

Wer ist die junge Frau, die eines Morgens auf einer Parkbank aufwacht? Obwohl sie selbst keine Erinnerungen besitzt, löst sie bei jedem, dem sie begegnet, Erinnerungen aus. Ihre Spurensuche wird zum Sammeln fremder Lebensgeschichten. Oder sind diese anderen Geschichten vielleicht gar nicht fremd? Was verbindet sie mit dem trauernden Hochschullehrer Rolf? Was hat sie gemeinsam mit Charlotte, die mit ihr Erinnerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs teilt? Je tiefer sie in die Leben der anderen eintaucht, desto intensiver kommt sie dem Leben selbst auf die Spur. Und mit der Erkenntnis, dass allem ein Gewicht anhaftet, steht sie schließlich vor der Entscheidung ihres Lebens. 


  • Herausgeber ‏ : ‎ Größenwahn Verlag; 1. Edition (22. März 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 250 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3957712874
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957712875











Britta Röder kenne ich schon seit den Zeiten der Buchgesichter - virtuell, versteht sich. Ihre Romane "Die Buchwanderer" sowie "Zwischen den Atemzügen" habe ich seinerzeit gerne gelesen und wartete seither gespannt darauf, wann wohl ein neuer Roman der Autorin erscheinen würde. Hier ist er nun also, und ob er mir ebenso gut gefallen hat wie die anderen beiden Romane, verrate ich hier:




















BEGEGNUNGEN...





Erster Satz: "So nah waren sie dem Himmel noch nie gekommen." (S. 1)


Dieses Buch ist bereits der dritte Roman von Britta Röder, war aber eigentlich ihr Debüt, das nach dem Schreiben jedoch für etwa zehn Jahre in einer Schublade verschwand. Nun hat sie das Werk wieder hervorgeholt und noch einmal komplett überarbeitet, und das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Wer "Die Buchwanderer" und "Zwischen den Atemzügen" bereits gelesen hat, wird rasch merken, dass sich alle drei Bücher in der Art der Erzählung komplett unterscheiden. Doch es gibt einen roten Faden in ihren Geschichten, wie die Autorin in einem Interview bei Radio Darmstadt verriet: stets geht es um Grundfragen des Lebens wie "Wer bin ich, was macht mich aus, was will ich eigentlich, was ist mir wichtig im Leben?" Und abseits der Figuren in den Romanen stellt man sich diese Fragen beim Lesen zwangsläufig auch.

In diesem Roman nun geht es um eine junge Frau, namenlos zunächst, weil sie sich an nichts erinnern kann, später auf den Namen Angelica getauft. Sie erwacht eines Morgens auf einer Parkbank, wirkt aber trotz fehlender Erinnerung nicht verwirrt oder irritiert, sondern geht neugierig und unbedarft drauflos und macht schon kurz darauf ihre ersten Begegnungen.

Da treffen ganz verschiedenen Personen auf Angelica, und jede:r meint in ihr jemanden wiederzuerkennen, den sie/er vor einiger Zeit verloren hat und bis heute vermisst. Mal hat Angelica auf den ersten Blick grüne Augen, mal blaue, mal hat sie blondes Haar, dann wieder braunes oder einen leichten Rotstich. All das verschwindet bei einem zweiten Blick, lässt aber beim Lesen durchaus kleine Fragezeichen aufploppen und immer neugieriger werden.

Gerade anfangs geraten die Begegnungen der jungen Frau ohne Erinnerung meist nur kurz, was zwar schnell verdeutlicht, was ein Aufeinandertreffen mit Angelica beim Gegenüber auslöst, mir persönlich das wirkliche Eintauchen in die Erzählung aber zunächst etwas erschwerte. Später kristallisieren sich jedoch einige Hauptfiguren heraus, die nach und nach auch für Angelica an Bedeutung gewinnen.

Anne beispielsweise, die ihr Leben nicht wirklich lebt und Menschen oft meidet, Rolf, der seine große Liebe und damit seinen Lebensmut bei einem tragischen Unfall verlor, oder Charlotte, die alte Dame, die Angelica vor ihrem Tod unbedingt noch ihre Lebensgeschichte anvertrauen möchte. Angelica lernt durch die zahlreichen Begegnungen viel über das Leben, nach und nach aber auch über sich selbst. Sie beginnt zu hinterfragen, wer sie ist, woher sie kommt, weshalb sie sich nicht erinnern kann... Und sie genießt es, allmählich nicht länger allein die Zuhörende und Verständnisvolle zu sein, sondern selbst gesehen und gehört zu werden.

In besagtem Interview bei Radio Darmstadt weist Britta Röder darauf hin, dass dieser Roman in zwei Zeitebenen handelt: einmal in der Gegenwart mit Angelica, und einmal ab 1939, nämlich bei der Erzählung Charlottes von ihren Kriegserlebnissen. Diesem Handlungsstrang wird tatsächlich mehr Raum gegeben als den anderen Figuren, wirkte dadurch auf mich jedoch als Teil dieses Romans im Verhältnis etwas zu dominierend, insgesamt jedoch gleichzeitig eher zu kurz gefasst, weil die wichtigen darin angesprochenen Themen so kaum zu ihrem Recht kamen. 

Löblich der Ansatz, Gegenwart mit Geschichte zu verbinden, gerade damit solch wichtige Themen immer in den Köpfen bleiben. Aber hier hätte ich mir womöglich sogar einen ganz eigenen Roman gewünscht, nicht die teilweise doch sehr komprimiert wirkende Fassung als ein Handlungsstrang unter vielen. Dennoch habe ich auch die Figur der alten Charlotte gern gelesen und mit Angelica liebgewonnen.


"Wie geht man damit um, wenn das Alter den eigenen Körper unaufhaltsam in einen Fremden verwandelt?" (S. 145)


Der Schreistil ist sehr eingängig, der Text liest sich ausgesprochen flüssig, und die Autorin zeigt einmal mehr das Talent, sowohl Gefühle sanft aber eindringlich zu transportieren, als auch lebendige Bilder im Kopf des Lesers / der Leserin entstehen zu lassen. Das sorgfältige Feilen jedes einzelnen Wortes ist dem Text anzumerken, und manch eine Passage konnte mich berühren und begeistern.


"Aber diese Unterscheidung in schwarz und weiß, in richtig und falsch, ist eine Illusion. Das Leben ist nicht in diese Kategorien einzuteilen. Das Leben ist Veränderung. Und wer wirklich lebt, der verändert sich ständig. Nur wer das begreift, kann verstehen und verzeihen. Auch sich selbst verzeihen. Das Absolute, dafür ist der Mensch (...) nicht geschaffen. Daran zerbricht er oder er stumpft ab." (S. 144)


Abgesehen von kleineren Schwächen (einzelne Passagen, die für mich nicht so recht vorstellbar waren oder auch die eher einer älteren Generation zuzuordnenden Namen), hat Britta Röder hiermit in meinen Augen wieder einmal eine sehr besondere Erzählung präsentiert, und vor allem die nachdenklichen Töne haben mir dabei sehr gefallen...  

Die Autorin deutete an, dass noch mehr Romanentwürfe in irgendwelchen Schubladen darauf warten, ans Tageslicht zu kommen. Ich hoffe, sie lassen sich nicht zu viel Zeit damit...


© Parden 

























Zu meinem Lebenslauf gibt es eine offizielle und eine inoffizielle Variante. Hier kommt die Offizielle: 1967 geboren in Trier, aufgewachsen in Mainz, Magisterstudium in den Fächern Romanistik, Slawistik und Mittlere/Neue Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und an der Université de Bourgogne in Dijon. Nach dem Magisterabschluss Einstieg ins Berufsleben. Seit 2000 arbeite ich bei einem großen Fachzeitschriftenverlag in Frankfurt/Main. Und zur Inoffiziellen gelang ihr über meine Homepage...




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.