Soeben erst, scheint es, ist der Große Krieg, den man später den Ersten nennen wird, vorüber gegangen. Das ehemalige deutsche Kaiserreich ist nun eine Republik, die später die Weimarer heißen soll. Nur langsam entwickelt sich eine andere Gesellschaft.
Noch schauen die Menschen Stummfilme. Berühmt sind oder werden später sein, zwei Filmmenschen. Dies sind Fritz Lang und Thea von Harbou. Beide stechen aus der Filmszene hervor – sie werden zu einem Glamourpaar, beide sind noch verheiratet, später miteinander, wenn auch kurz. Doch welche Verbindung besteht zwischen der Drehbuchautorin und der Ehefrau des Regisseurs? Hat sich Elisabeth Rosenthal, verheiratete Lang, selbst entleibt, oder betätigte der Ehemann den Abzug einer Pistole? Oder war es Thea, die später vorgeben wird, Lisa Lang geliebt zu haben?
Es ist ein junger Polizeikommissar, der den Todesfall ermittelt und dem dabei einigermaßen Steine in den Weg gelegt werden. Ein Mord? In diesen Kreisen? Doch dieser Walter Beneken gibt so schnell nicht auf. Der junge Mann wohnt mit seiner Mutter, die sich, nachdem Vater und älterer Bruder gefallen sind, an Walter klammert in einer Hinterhauswohnung (Ich hätte echt gedacht, dass die preußische Polizei ihre Kommissare besser bezahlt).
Gegen solch berühmte Leute zu ermitteln, führt zu Konflikten und die näher an der Politik und dem Geld stehenden Behördenleiter machen es den Ermittlern in Romanen nicht leicht.
Wird es Walter Beneke schaffen, seinen Fall nicht zu einem „nassen Fisch“ werden zu lassen?
Achtung: bezüglich Walter ist der weitere Text etwas spoilerhaft.
Fritz Lang und Thea v. Harbou drehen dann einen Film: Der stumme Tod. Nach allem, was man (schnell mal) so nachlesen kann, lies beide der Tod von Lisa Lang nicht los. Allein diese Geschichte ist eine spannende. Ralf Günther thematisiert das „Filmemachen“. Er lässt den Meister Lang selbst darüber reden, der damit nicht nur den jungen Kommissar etwas vom Fall ablenken will, Lang zeigt sich als stolzer Mann, der Anfang der Zwanziger den Stummfilm noch hoch hält und sich später dem Tonfilm genauso zuwenden wird. Das ist ein extra Erzählstrang, ein informatorischer könnte man sagen.
Die Zwanziger kennzeichnet ein Aufbruch in verschiedene Richtungen. Mit seiner Figur Max Benecke bewegt sich Ralf Günther auf das Gebiet von Transsexualität und Transvestismus, in dem er den jungen Mann nach seiner eigentlichen Sexualität suchen lässt. In Berlin entwickelte sich die Szene entsprechender Lokale auf breiter Basis. Der Begriff des Transvestismus (trans „hinüber“ und Vestire „kleiden“) wurde 1910 geprägt, er beschrieb
„alle Menschen, die, gleich aus welchen Gründen, freiwillig Kleidung tragen, die üblicherweise von dem Geschlecht, dem sie zugeordnet sind, nicht getragen werden; und zwar sowohl Männer als auch Frauen.“ (Magnus Hirschfeld – siehe Wikipedia)
In verschiedenen Rezensionen wird diese zweite Geschichte als unnötig beschrieben, auch ich überlegte zu Beginn, ob die „Filmgeschichte“ nicht gereicht hätte.
Aber Ralf Günther gelingt ein Kunstgriff, wenn er einerseits die mögliche Dreiecksbeziehung von Lang, Harbou und Rosenthal als Ausgangspunkt für den nie wirklich aufgeklärten Selbstmord oder Mord erzählt und dem die Tanzeinlage von Marlene gegenüberstellt. Die Kunstform von Stumm- und Tonfilm und die Kunstform von Tanz und Verkleidung, kommen in der Gesellschaft an, die immer offener wird.
Es geht dabei nicht um die nach § 175 StGB verbotene Homosexualität, von dem der Transvestismus tatbestandlich nicht betroffen ist. Allerdings gab es in der Polizei die Sittenpolizei oder das Sittendezernat („Sitte“) innerhalb der Sicherheitspolizei, die sich nicht nur mit Sexualstraftaten sondern auch mit der „allgemeinen sittlichen Odnung“ befassten. Daher hat sie auch ein Auge auf "unzüchtigen" Tanzlokalen. Ein in dieser Hinsicht „anfälliger“ Kommissar hätte keine Zukunft als Kriminaler (so bezeichnete man die Angehörigen der KriPo) gehabt.
Ralf Günther gelingt der Spagat auch textlich im Kapitel „Marlene tanzt“:
Eine Auflösung erhalten beide Erzählungen in diesem Roman nicht, dies überlässt der Autor den Leserinnen und Lesern.
Einen Einblick gibt Günther im Nachwort zum ungeklärten Todesfall Rosenthal und der Beziehung von Lang und Harbou. Auf das andere Thema kommt er nicht zurück, obwohl doch die Fragen von Geschlechtlichkeit, Gendergerechtigkeit und LGBT in der Gegenwart eine ganz andere Rolle spielen, was in Filmen und Büchern immer öfter zum Ausdruck kommt und weiterhin kontrovers diskutiert wird.
Nicht zuletzt waren nicht heterosexuelle Polizisten vor 30 Jahren kaum denkbar, das Thema wurde einfach nicht bedient, man sprach nicht drüber. Heute bemühen sich die Polizeibehörden breite Diversität. Die Bundespolizei zum Beispiel erklärt anlässlich des „Diversity-Tags 2024“ ein Diversitätsmanagement aufzubauen. Alle Dimensionen von Vielfalt sollen gemäß der Charta der Vielfalt angesprochen werden.
Davon war Walter Benecke um 1920 noch weit entfernt. Mit den Mitteln eines historischen Romans zeigt Ralf Günther mit seiner Figur genau dieses Thema auf, Leserinnen und Leser könnten nach der Lektüre durchaus mal recherchieren, wie „die Polizei“ heute mit Diversität umgeht.
* * *
Das Titelbild des Buches zeigt ein Foto von Fritz Lang und Thea v. Harbou. Eine schöne Idee war, die Kapitel in der Form von "Stummfilmkapiteln" also in schwarzen Tafeln zu gestalten. So sehen wir am Ende, dass sich die Handlung gerade mal auf knapp 10 Tage erstreckt.
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Alle paar Jahre verlässt der der Autor, das Gleis, auf dem er gerade geschrieben hatte, diesmal stellte er die Weiche von weihnachtlichen Geschichten mal wieder auf einen historischen Roman. Wann ist ein solcher gut? Wenn er zum Weiterlesen animiert, zur Recherche und in diesem Fall zum Anschauen von Lang & Harbou Filmen.
Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar, lieber Ralf.
Der müde Tod /
Regie: Fritz Lang /
Drehbuch: Thea v. Harbou, Fritz Lang
Der Dieb von Dresden (UR) / Das Weihnachtsmarktwunder (UR) / Die Badende von Moritzburg (UR) / Die Theatergräfin (UR) / Orient - Zeitreise (UR) / Als Bach nach Dresden kam (UR) / Die Geheimnisse des Kölner Doms (UR) / Eine Kiste voller Weihnachten (UR) (AP) / Arzt der Hoffnung (AR) / Goethe in Karlsbad (UR) / Günther, Ralf: Winterherz (UR)
- DNB / Rowohlt / Hamburg 2024 / ISBN: 978-3-463-00055-8 / 267 Seiten
- Ralf Günther - Autorenseite (Litterae-Artesque-Dresda)
© Der Bücherjunge
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