Montag, 29. April 2024

van Hall, Jörn: Was am Ende blüht

Neustrelitz am 11. April 2024. Buchhandlung „Frau Rilke“. Diese hübsche kleine Buchhandlung besteht noch nicht lange, überlange Regalmeter darf man nicht erwarten, aber die ausgestellte bibliophile Ware scheint durchaus auserlesen.

Eine Buchhandlung im Norden der Republik, einzige Buchhandlung in der ehemaligen herzoglichen Residenzstadt Neustrelitz, die nur für eine begrenzte Menge an Zuhörerinnen und Zuhörern bei Buchlesungen Platz bietet. Angemeldet hatte ich mich daher für diese Lesung von WAS AM ENDE BLÜHT, Autor ist Jörn van Hall, der Neustrelitz und dem Norden sehr verbunden ist.

Bücher, die DDR-Geschichte „transportieren“, vermehren sich gerade auf dem Buchmarkt. Es ist, als ob der Dornröschenschlaf beendet wurde. Nicht nur Sachbücher, auch Romane sind mehr im Angebot. WAS AM ENDE BLÜHT ist solch ein Roman. Das Besondere an ihm ist dabei nicht unbedingt die Geschichte, es ist der Stil.

Um was geht es? Neun Personen werden gleich zu Beginn aufgezählt. „Ein Kammerspiel“, meint Kathrin Matern zum Autor gleich zu Beginn des Gesprächs zur Vorstellung des Romans. Jörn van Hall bestätigt dies so nicht ganz, doch trifft diese Bezeichnung meines Erachtens ziemlich ins Schwarze.

Die achtundfünfzigjährige Eva Nielsen ist Leiterin einer Kulturstiftung. Ihr Gegenpart heißt Kirsten Densow, eine momentan arbeitslose Kulturwissenschaftlerin, die besagter Eva die Schuld an ihrer abgeknickten Karriere gibt und nun nachweisen will, dass sie mit den Herren vom Eibenberg zusammen arbeitete, kurz, als informelle Mitarbeiterin der Kreisdienststelle des hiesigen MfS.
Kann der Journalist Fuller ihr helfen? Hat die Nielsen mit Karl Marchet, Rechtsanwalt, Mann ihrer Freundin Corinne, ehemalige Opernsängerin, bessere Chancen?

„Rache fragt nicht nach Schuld.“ Heißt es im Klappentext.

Zu Eva Nielsen steht auch Liselotte, fünfundfünfzig, ihre Haushälterin, die in der Mansarde des Hauses von Eva wohnt.

„Während... alle Protagonistinnen verlieren, gewinnt einer, mit dem niemand rechnet.“ (Verlag) Der Titel des Romans zeigt damit schon ein mögliches Ende an.

* * *

Die DDR und ihr Nachklang. „Das kleine Land macht uns verrückt. Der Stachel steckt noch im Kopf.“ Vor einigen Tagen gab zu einem ähnlichen Thema ein Kommentator im größten Social Media Kanal sinngemäß an, dass der „Stachel“ erst weg wäre, „wenn der letzte Jungpionier gestorben wäre.“ Der letzte Jungpionier dürfte aus dem Jahrgang 1983 stammen, vor 2070 wäre da nichts zu machen. Welche Rolle spielt dann zum Beispiel dieses Buch?

Jörn van Hall geht auf vieles ein, was in den Diskussionen in den letzten drei Jahrzehnten ständig wiederholt wurde: Das die Stasi allgegenwärtig war, dass niemand in leitenden Funktionen ohne Kontakt zu deren Mitarbeitern blieb. Oder die Auffassung, dass „jahrzehntelanges Recht zu Unrecht und Unschuld zu Schuld erklärt“ werden würden.

Die Geschichte des Romans hätte auch völlig nüchtern und überaus sachlich erzählt werden können. Persönlich würde ich das sogar für gut befinden. Allerdings wäre es möglich, dass die Geschichte als eine von ganz vielen dann nicht funktioniert hätte. Das Besondere ist die lyrische Prosa des Autors und die damit einhergehenden Beschreibungen. Manchmal funktioniert das ganz gut, und an anderen Stellen finde ich es unpassend, wenn es zum Beispiel um die Unterleibsprobleme der Haushälterin Lieselotte geht.

Ein positives Beispiel:
„Die Wolken hatten den Regen mitgenommen. Er stand wie eine Wand über dem Wald. Lieselotte öffnete das Fenster. Sie roch den Schauer. Sie dachte an das Buch auf dem Tisch in ihrem Rücken. Die Frau auf dem Buch saß auf einer Schaukel, Sie hing im Himmel. Lieselotte wollte das Buch ein zweites Mal lesen. Sie wusste, Lieselotte würde über Effi Lieselotte vergessen.“ (Seite 145)

Wieso eigentlich? Gerade nicht, schaut man sich die Effi an, wobei ich auch ohne den Vornamen aus dem Werk Fontanes Angelika Domröse auf der Schaukel gesehen hätte. Glaube ich zumindest.

Negativ, zumindest in der Wirkung auf mich: „Er schnalzte mit der Zunge, nahm die Gläser und bat auf das Sofa. Er schenkte ein und nach, bis er sah, wie sich die Wiese an Kirsten auf den Polstern streckte. Fuller legte sich auf sie. Er biss in die Margeriten. Er schob den vernähten Schwalbenschwanz am Schenkel in die Höhe, schob seinen Pint unter die Wiese, ins Fleisch...“ (Seite 212)

Gleichzeitig finde ich die Antwort beim Autoren selbst:
„Zwei Männer kamen damals in mein Büro“, sagte Eva. „Unangemeldet. Ich wusste, woher sie kamen, bevor sie sich vorstellten. Sie sahen wie einfache Buchhalter aus. Doch von ihren Gesichtern und Händen abgesehen war alles an ihnen dunkler als ihre Schatten. Ihr wisst, wie sie waren, wie Schornsteinruß, überall und unbezwingbar.“
„Jetzt keine Prosa“, unterbrach Corinne. Ihre Stimme klang barsch. „Jeder weiß, wie die Herrschaften von Horch und Guck aussahen. Also komm besser gleich zur Quintessenz, Eva!“ (Seite 138)
Verblüffenderweise sehe ich mich hier in meiner Meinung bestätigt.

Am Ende ein Glossar.  Mit Begriffen, teilweise aus der griechischen Mythologie.  Weniger DDR-Dinge, aber auch. Nur, sind die gerade relevant und erklärungsbedürftig?

Es ist so eine Sache mit den Büchern und solchen Themen. Sie sind grau. Nicht vom Stil, nicht durch die Erzählkraft von Autorinnen und Autoren. Sie sind so grau wie das "kleine Land". Oder wie man sich das heute so vorstellt. Die Eva Nielsen und die Kirsten Densow sind Kulturwissenschaftlerinnen. Das spielt schon eine Rolle, mal gehts kurz ums Theater oder um Malerei.

Es scheint aber, als seien bestimmte Bücher, oder Filme aus der DDR-Zeit nicht (mehr) benannt. Die Leute in solchen Geschichten unterhalten sich nie über Alltag, Fernsehen, Kino, nicht über Effi Briest mit Domröse und Schulze, nicht über Sieben Sommersprossen oder Wege übers Land. Oder Rolf Hoppe als Vater von Nastassja Kinsky, die Herbert Grönemeyer liebt. Sie könnten ja auch über das Unsichtbare Visier den Kopf schütteln, oder die Aktuelle Kamera von gestern Abend mit der parallelen Tagesschau vergleichen. Oder Gerhard Löwenthal mit Karl Eduard von Schnitzler. Oder irgend so etwas. Sie könnten Brigitte Reimann zitieren oder Stefan Heym. Zum Beispiel aus dem König-David-Bericht, den ein Verwandter aus dem Westen mitgebracht hat. Oder davon, dass die Kinder in der Schule über Ostrowskis "Stahl" gesprochen hätten. Oder Timur und seinen Trupp. Oder über die LPG, die 100 Gänse und ein Gänselieschen hat, welches meins ist. Also RENFT. Nichts davon. Die grauen Fassaden, vielleicht die stinkenden Trabanten, die Schlangen und die Bückware, das kommt immer vor. Aber die kleinen kulturellen Hinweise, in denen sich Leserinnen und Leser wiederfinden, die fehlen (oft). Auch hier, wobei die Handlung ja nach der deutschen Vereinigung spielt. Aber hier könnte mal einer den Mord an Rohwedder thematisieren, weil der ja Treuhandchef war.  Was auch immer. Das ist es, was mir fehlt. Versteht das jemand? 

* * *



Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer, das ist die Arbeit des verlagserfahrenen Autoren, der, 1970 in Neustrelitz geboren, mit der Wende Rechtswissenschaften studierte und später lange in London arbeitete. Lyriker. Das erklärt vielleicht diesen Drang zu lyrischer Prosa bei einem solchen Thema. Aber das ist meine Meinung, mein Gefühl, der ich mit Lyrik seltener was anfangen kann.

„Seinen eigenen Stil […] belegen seine... Bücher mit ihrer von der Verknappung und bildhaft-poetischen Kraft des erfahrenen Lyrikers geprägten Sprache.“ Schreibt Susanne Schulz im hiesigen Nordkurier. Sicherlich.

Nun, ich habs trotzdem gern gelesen. Es war anders. Etwas gewöhnungsbedürftig. Die Lesung bei Frau Rilke, oder besser Frau Kathrin Matern und ihrem Team, hatte mich neugierig gemacht. Da geh ich gern wieder hin.


© Bücherjunge



1 Kommentar:

  1. Dein Negativbeispiel bei den Zitaten gefällt mir ehrlich gesagt auch nicht wirklich. Aber so eine Lesung ab und zu mag ich auch.

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