IN HAFT...
Estela sitzt eingesperrt in einer Arrestzelle vor einem Einwegspiegel und redet drauflos - jedoch ohne zu wissen, ob dahinter jemand sitzt und zuhört. Schnell erfährt man, dass sie Hausmädchen war in einer gutsituierten Familie in Chiles Hauptstadt, zuständig für den Haushalt und auch für die kleine Tochter des Ehepaares. Doch das Mädchen ist tot, und Estela will nun von den Umständen berichten, die zu dem Tod des Kindes führten - und holt dafür weit aus.
Dabei erzählt Estela recht nüchtern und distanziert von ihrem Leben im Haus der Familie, wo ein winziges Zimmer ihr einziger Rückzugsort war. Ihre täglichen Aufgaben zählt sie ebenso wiederkehrend auf wie die Besonderheiten der einzelnen Familienmitglieder. Rasch wird deutlich, dass hier jede:r in Rollen gefangen war und keine Chance hatte, sich abseits davon zu bewegen. Der Hausherr, als Arzt erfolgreich, in der Rolle des starken Mannes, der die Richtung vorgibt; seine Frau, als Rechtsanwältin viel beschäftigt, auf kalorienbewusste und gesunde Ernährung bedacht, perfekte Gesellschaften gebend; das Mädchen, als Kind reicher Eltern von Geburt an unter dem Leistungsdruck, der in Chile in diesen Gesellschaftsschichten herrscht und erwartet wird, leidend unter der Lieblosigkeit der Eltern. Und schließlich Estela selbst, reduziert auf ihre Rolle als Hausmädchen, stets in der Uniform der karierten Schürze, die schließlich selbst die Grenzen ihrer Persönlichkeit verschwimmen sieht.
Estela berichtet von Verhältnissen, wie sie in Chile offenbar normal sind. Über weite Strecken geht es um den Tod des Mädchens nur ganz am Rande - es wird vielmehr von bedrückenden Alltagserlebnissen erzählt, die die Einsamkeit des Mädchens (und seiner Eltern) und v.a. auch von Estela selbst in den Fokus rücken. Täglich kreisen die Hausbewohner in ihrer Einsamkeit fast berührungslos umeinander. Gerade das Mädchen und Estela sind sich in ihrer Einsamkeit ähnlich, aber aufgrund des Klassenunterschieds gibt es auch dort keine wirklichen Berührungspunkte, obwohl Estela erkennt, wie schlecht es dem Mädchen geht. Irgendwie wirken hier alle Figuren gesichtslos, nicht nur Estela (s. Cover) - da es hier v.a. um die Reduktion auf bestimmte Rollen geht (hier wird selten jemand beim Namen genannt, sondern stets in der jeweiligen Funktion), erscheint die eher plakative Darstellung der Charaktere nachvollziehbar.
"...aber ich sagte mir immer wieder: Estela, was soll denn noch passieren, ohne zu ahnen, dass alles vollkommen überstürzt passieren würde, dass das Leben über Jahre hinweg stillstand und sich dann innerhalb weniger Tage verausgabte." (S. 188)
Ein intenisves, atmosphärisch dichtes Kammerspiel präsentiert Alia Trabucco Zerán hier, bildhaft, symbolbeladen und metaphernreich und mit verschiedenen Bedeutungsebenen. Die Schilderungen des Wetters und der klimatischen Verhältnisse beispielsweise unterstreichen das familiäre Geschehen noch, phasenweise hatte ich das Gefühl, selbst in dieser heißen, trockenen Atmosphäre aus Gelb- und Brauntönen zu versinken. Als Dramaturgie funktionierte das für mich jedenfalls gut, die Spannung steigt zum Ende hin kontinuierlich. Was geschah denn nun mit dem Mädchen? Das Ende dann: ein Paukenschlag, eine unerwartete Auflösung - Überraschung gelungen.
Auf den Punkt gebracht: Ich mochte den Roman, den Einblick in chilenische Gesellschaftsverhältnisse. Und je länger man über die Erzählung nachdenkt, desto mehr scheint sich zu entpuppen. Faszinierend.
© Parden
Inwieweit sind das chilenische Gesellschaftsverhältnisse? Kann man eine solche Nichtbeziehung nicht in vielen anderen Ländern beobachten , der Haushalt ist doch bestimmt verschiebbar...
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